Der Wiedergänger Seite 4

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Erst als der Rat der Weisen einberufen wurde und über fünfundfünfzig Stunden die Kristallkugel befragte, zeigte sich eine Lösung. Kuno von Ziesar sollte sich unter die Menschen begeben, die nahe seiner einstigen Burg gesiedelt hatten und so die neue Welt erkunden. In der Gestalt des Wiedergängers konnte er ihnen allerdings nicht unter die Augen treten. Er glich einem Skelett, überzogen mit fahler, runzliger Haut. Nein, so würde er die Neuzeitmenschen nur erschrecken. Kani überreichte ihm einen Becher mit warnenden Worten: „Trink das. Wenn du ausgetrunken hast, wirst du in einen Tiefschlaf fallen. Du wirst als Mensch erwachen, aber deine Verwandlung wird kurzlebig sein und nur wenige Stunden andauern.“ „Wie lange“, fragte Kuno. „Das kann ich dir leider nicht sagen, denn noch nie wurde die Wirkung ausprobiert.“ Kuno schnupperte an dem Gebräu und ihm wurde leicht übel. Dann hielt er sich die Nase zu und stürzte die braune Brühe herunter.

Im Traum fühlte er sich in den Sommer des Jahres 1410 zurückversetzt. Heinrich von Isenburg und Johann von Treskow hatten die Burg gestürmt und Kuno von Ziesar aus seinem „hus zu buten“ vertrieben. Den Halunken war dieser Streich nur gelungen, weil Kuno seinen Vater Hennig nicht mehr an seiner Seite hatte. Kuno irrte, schmählich geschlagen, mit wenigen Getreuen, die ihm geblieben waren, wochenlang umher. Die Männer verbargen sich in der urwaldgleichen Wildnis der Nuthesümpfe, ernährten sich von Wild, angelten gelegentlich ein paar Fische. Das war kein Leben. Zumal hier am Schicksalsstrom die Welt für sie zu Ende schien. Ohne die Sicherheit der Burg waren sie schutzlos den plündernden und brandschatzenden Raubrittern, die die Mark Brandenburg durchstreiften und selbst Handelswege kontrollierten, ausgeliefert. Während eines Bades im flachen Uferbereich der mäandernden Nuthe schnappte zu allem Elend ein meterlanger Wels nach Kunos Männlichkeit und verletzte mit seinen stummelig spitzen Zähnchen die empfindliche Haut. Der Schmerz war derart heftig, dass sich Kuno noch nach Jahrhunderten daran erinnerte. Mit Hilfe seines Mundschenks, der in der Burg verblieben war, gelang ihm des Nachts der Einstieg in seine alte Schlafkammer, wo er sich die Salbe aus Rosenhonig, vermischt mit geriebenen Brombeerblättern, zu holen gedachte. Eine heilkundige Frau hatte sie einst für ihn angefertigt. Aber das Glück war Kuno nicht hold. Er wurde entdeckt und Heinrich von Isenburg ließ ihn in Ketten legen. Angeschmiedet im unterirdischen Verlies sah er junge Ritter seinem Ende entgegen.



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