Brauchen wir mehr Poesie im Bundestag? Ja, sagen die Schriftstellerinnen Simone Buchholz, Mithu Sanyal und der Autor Dmitrij Kapitelman. In einem am Dienstag in der SZ erschienen Artikel sprechen sich die Drei für die Einführung einer "Parlamentsdichterin" nach kanadischem Vorbild aus. "Macht die Politik poetischer und die Poesie politischer", heißt es in ihrem Vorstoß. Frage: Wie viel Politik braucht es, um Poesie zu einer reinen Funktion verkommen zu lassen?
Angenommen, wir würden in einer überfluteten, unübersichtlichen und überkomplexen Welt leben, in der sekündlich mehr Bewegung stattfindet, als wir ertragen können. In der es unmöglich geworden ist, Realität und Simulation zu unterscheiden, und Menschen sich zunehmend nach jener Ruhe sehnen, die sie - zwanghaft unter dem Deckmantel der Freiwilligkeit - selbst abgeschafft haben. In einer solchen Welt, in der die Sehnsucht nach Klarheit, nach Greifbarem größer denn je geworden ist, wünscht man sich - wenigstens von Seiten der politischen Führung - die Formulierung eines nachvollziehbaren Plans, klare Worte, vielleicht eine Prise Pragmatismus. Anspielungen, indirekte Verweise, Polemiken und leere Versprechen, all dieses schöne Fleisch der Kommunikation, darf gern in künstlerischer Absicht nach Herzenslust verarbeitet werden; nicht aber hier, wird man sagen, nicht hier, wo wir festen Boden unter den Füßen benötigen. Und dann, plötzlich, ertönt da die Forderung: "Macht die Politik poetischer und die Poesie politischer"
So forderten es die Schriftstellerinnen Simone Buchholz, Mithu Sanyal und der Autor Dmitrij Kapitelman in einem am Dienstag in der Süddeutschen Zeitung erschienen Artikel mit der Überschrift "Dichterin gesucht". Gemeint ist eine "Parlamentarsdicherin" nach kanadischem Vorbild. Alle zwei Jahre wird dort eine Poetin oder ein Poet gewählt, der beziehungsweise die Gedichte zu wichtigen Anlässen schreiben, die Parlamentsbibliothek neu bestücken und Veranstaltungen organisieren soll. Gegenwärtig besetzt die Dichterin Louise Bernice Halfe das Amt.
Immer die Diversität
Das von den deutschen Autoren geforderte Amt sollte nicht nur divers wählen, sondern auch divers besetzt sein. Die Lyrik hat sich also zwischen Identitätspolitik und Parlament zu quetschen; ein kleines, dunkles Zimmerchen, von wo aus sie, von Zuschreiben und Forderungen zersetzt, nurmehr Dichtung genannt werden kann, da sie das, was jeder und jede versteht, irgendwie schöner ausdrückt. Dass gute Lyrik aber vom Umkreisen eines Gegenstandes, vom Verweisen auf Nicht-Definierbares lebt, dass sie tastend nur und selten bewusst spricht, spielt hier wohl keine Rolle.
Wichtiger als jede von der künftigen "Parlamentsdichterin" geschriebene Zeile, wäre die Tatsache, dass sie eine "Parlamentsdichterin" ist. Denn um nichts Anderes kann es sich hierbei handeln. Tatsächlich ist alles Andere, selbst die "Funktion" der vermeidlich Schreibenden, ausnahmslos, vom heimischen Schreibtisch aus zu erledigen. Die Kunst, so heißt es in dem SZ-Artikel, soll die Antwort darauf liefern, wie wir "den ganzen Kontinent zu einem friedlicheren, gerechteren, klimarettenden Ort?" machen. Die Kunst aber, kann im besten Fall die richtigen Fragen stellen. Antwort liefernde Kunst ist Essay, also kunstvolle Formulierung, nicht aber Kunst.
Letztlich würde der Antritt zur "Parlamentsdichterin" und die mit diesem Antritt verbundenen Aufgaben jede Künstlerin entmachten. Und so bleibt uns also - sollte der Autorenwunsch nach einem Dichter-Amt im Parlament in Erfüllung gehen - nur zu hoffen, dass da jemand gewählt wird, der oder die bereits vor Amtsantritt politisch befallende Lyrik geschrieben hat.
Topnews
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Der PEN Berlin: Bratwurstbude ohne Bratwürste?
Literaturwettbewerb um Bachmann-Preis 2024 gestartet
Nachhaltigkeitsdebatten im Deutschunterricht – Politischer Missbrauch oder pädagogischer Fortschritt?
Nach Angriff auf Salman Rushdie: "Die satanischen Verse" gefragter denn je
Keine Pflichtlektüre mehr, weniger Bühnenaufführungen: Wie ist es um Goethes "Faust" bestellt?
Das "Textland Literaturfestival": Lesungen und Gespräche zum Thema "Macht"
"Ist Winnetou erledigt?": Karl-May-Gesellschaft und -Stiftung veröffentlichten offenen Brief
Schriftsteller Salman Rushdie auf Bühne mit Messer angegriffen
Heinz Strunk: Geschrieben in 100 Sekunden
Mithu Sanyals „Identitti“ ab 1. April im Staatstheater Darmstadt
Mithu M. Sanyal erhält "Literaturpreis Ruhr" für "Identitti"
"Das literarische Quartett" mit Juli Zeh, Mithu Sanyal und Philipp Tingler
Deutscher Buchpreises 2021: Diese Bücher stehen auf der Shortlist
Der ZDF-"Aspekte"-Literaturpreis: Diese vier Romane stehen im Finale
"Philosophie Spezial. Denken, das ansteckt": Expertenrunde im WDR zum Thema "Aufbruch"
Aktuelles
Colson Whitehead und die Poetik des Widerstands – Sklaverei, Rassismus und die Gegenwart
SenLinYu : Zuerst war Manacled
Eva Biringer erhält NDR Sachbuchpreis 2025 für ihr Buch „Unversehrt. Frauen und Schmerz“
Blinde Geister von Lina Schwenk – Wenn das Schweigen lauter ist als jeder Sirenenton
Wedding People Alison Espach – Luxus-Hotel, Katastrophenwoche, zweite Chancen
Buckeye von Patrick Ryan – Ein kleiner Ort, zwei Familien, Jahrzehnte voller Nachhall
Rabimmel Rabammel Rabum – St. Martin und Laternenfest
Nobody’s Girl von Virginia Roberts Giuffre – Wenn eine Stimme keine Bühne mehr braucht
50 Sätze, die das Leben leichter machen von Karin Kuschik– Kleine Sätze, große Hebel
Laurent Mauvignier erhält den Prix Goncourt 2025 für seine stille, tiefgreifende Familiensaga „La maison vide“
Beauty and the Bachelor von Kelly Oram – Reality-TV, ein CEO mit Countdown und eine Stylistin, die nicht „die Rolle“ spielt
Faust Forward – Der Klassiker als akustisches Experiment
„Ich, Ljolja, Paris“ : Getäuscht von Juri Felsen
Mein Herz in zwei Welten von Jojo Moyes – Von der Hummelhose nach Manhattan
Archiv schreibender Arbeiterinnen und Arbeiter zieht nach Dortmund
Rezensionen
Ein ganz neues Leben von Jojo Moyes – Trauerarbeit mit Tempo: Wenn Weiterleben kein Verrat ist
Ein ganzes halbes Jahr Jojo Moyes – Wenn Hoffnung und Selbstbestimmung an einem Tisch sitzen
Mein Leben in deinem von Jojo Moyes – High Heels, tiefe Risse
Zurück ins Leben geliebt von Colleen Hoover – Regeln, die Herzen brechen
Für immer ein Teil von dir von Colleen Hoover – Schuld, Scham, zweite Chancen
Was geht, Annegret? von Franka Bloom – Neustart mit Roulade: Wenn Alltag zur Revolte wird
Heart of the Damned – Ihr Versprechen ist sein Untergang von Julia Pauss –„Auf alle Diebe wartet der Tod. Nur auf mich nicht.“
Bonds of Hercules – Liebe das Monster in mir von Jasmine Mas – Wenn der Funke zur Fessel wird
Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger – Aufbruch ins Offene: Wenn True Crime zur Fata Morgana wird
Leider Geil von Sophie Ranald – Vom „braven Mädchen“ zur eigenen Stimme
Das Haus meiner Schwester von Rebekah Stoke – Glitzer, Gier, Grenzen
Welcome Home – Du liebst dein neues Zuhause. Hier bist du sicher. Oder? von Arno Strobel – Wo Sicherheit endet und Paranoia anfängt
Tolstoi: Krieg und Frieden
Falling Like Leaves von Misty Wilson – Herbstluft, Herzklopfen, Heimkehr