Longlist Deutscher Buchpreis 2021: Yulia Marfutova - "Der Himmel vor hundert Jahren"

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Ein kleines Dorf irgendwo in Russland um 1918. Von der Oktoberrevolution haben die Bewohner nichts mitbekommen; auch der Bürgerkrieg ist ihnen entgangen. Bis "die Realität" sie einholt, und den Dorffrieden stört... Bild: Rowohlt Verlag

In ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Debütroman "Der Himmel vor hundert Jahren" erzählt die in Moskau geborene Autorin Yulia Marfutova von Aberglaube und Fortschritt, von einfachen Lebensweisen und aufwühlenden revolutionären Kräften. Tableau all dieser Auseinandersetzungen ist ein kleines Dörfchen irgendwo in den Weiten Russlands um 1918.

Selbst an den entlegensten und stillsten Punkten der Welt herrscht niemals Stillstand. Dort, wo das große Weltgeschehen nicht Teil der Lebensrealität ist und politische Umbrüche in weiter Ferne liegen, ereignen sich andere Kämpfe. Von solchen erzählt Yulia Marfutovas Debütroman "Der Himmel vor hundert Jahren". Das Buch spielt im Jahre 1918 in einem kleinen Dörfchen irgendwo in Russland, so weit von der Weltpolitik entfernt, dass man weder etwas von der Oktoberrevolution, noch von dem darauf folgenden Bürgerkrieg mitbekommen hat. Hier lebt man von Kargheit umgeben und den Elementen ausgesetzt. Das Wetter entscheidet über alles. Nicht verwunderlich also, dass nichts wichtiger wäre, als eine zuverlässige Wettervorhersage.

Geister und Götter

Diesbezüglich bieten sich den Dorfbewohnern zwei Möglichkeiten: Zum ersten ist das der alte Ilja, der das Wetter, so behauptet er, mithilfe eines mit Quecksilber gefüllten Glasröhrchens voraussagen kann. Sein Gegenspieler ist Pjotr, der vom Alter her beinahe an den "Dorfweiseste" heranreicht, und der Iljas Methode heftig misstraut. Er selbst glaubt daran, dass man den Fluss befragen muss, um sichere Vorhersagen treffen zu können. In Iljas Glasröhrchen-Vorhersagen meint er jedoch nicht nur einen Schwindel, sondern auch ein Herausfordern der allmächtigen Götter und Geister zu erkennen. Über diese Wesen, so ist sich Pjotr sicher, sollte man sich nicht erheben. Allein die Annahme, man wäre gleichberechtigt, würde die Götter erzürnen. Nun versammelt auch Pjotr so etwas wie eine Fangemeinde um sich, zu der - ausgerechnet! - auch Iljas Frau Inna Nikolajewna gehört. Sie traut eher den althergebrachten Methoden, und wendet sich gegen die Erneuerung.

Vorbote des Umbruchs

Eines Tages stößt besagte Inna Nikolajewna im Stall auf einen jungen, abgemagerten Mann. Er trägt keine Stiefel, dafür aber eine zerschlissene Offiziersuniform. Wadik, so der Name des Fremden, bekommt eine Ecke im Haus zugewiesen, und wird bald schon zum Mittelpunkt der Dorfgespräche. Vor allem die Frauen scheinen fasziniert. Sie verbreiten Geschichten, wenn sie sich auf dem Markt treffen. Jede will den Neuankömmling sehen, vor allem die Frau von Pjotr, aber auch Marfa Iwanowna und ihre als etwas zurückgeblieben geltende Schwester Warwara. Wadik ist schließlich der einzige junge Mann im Dorf, nachdem all die anderen vor Jahren in den "Krieg" gezogen sind.

Der junge, zerfledderte Mann bringt einiges durcheinander, unterbricht die bisher vorherrschende, dörfliche Ruhe. Er kommt als der Vorbote eine großen Umwälzung ins Dorf. Denn genau vor diesem Hintergrund spielt Marfutovas Roman. Er verweist auf die Ruhe fernab des großen Knalls und zeigt, wie sich wichtige politische Entscheidungen und Umbrüche auf die kleinen Leute auswirken. Vom Nachhall dieser Umbrüche wird das russische Dörfchen erfasst.

"Die Realität"

Marfutova trägt uns in unruhige Zeiten. Plötzlich werden Ikonen an sicheren Orten versteckt und geschützt; die alte Welt, man will sie bewahren. Doch bald schon machen neue Ideen die Runde, Ideen um Personen. Als die Revolutionäre Mitja und Kostja ins Dorf kommen, werden sie als "die Realität" bezeichnet. Mit ihrer Ankunft ist es gänzlich vorbei mit der Ruhe. Andere Figuren, Pjotr Beispielsweise, verschwinden urplötzlich.

All dies wird aus wechselnden Perspektiven der Dorfbewohner eher indirekt, über Andeutungen geschildert. Somit gelingt es Yulia Marfutova, eine Stimmung der Vagheit zu errichten und aufrecht zu erhalten; eine Atmosphäre, die nur an ausgewählten, pointierten Stellen das auktoriale Erzählen zulässt. Immer vermuten wir, nie können wir wissen. Ebenso wie die Bewohner dieses Dorfes, die bisher von den welthistorischen Ereignissen abgekapselt lebten und sich nun mit der gehalten Schlagkraft "der Realität" auseinandersetzen müssen, werden wir durch diesen Roman gejagt.


Yulia Marfutova: "Der Himmel vor hundert Jahren"; Rowohlt Verlag, 2021, 184 Seiten, 22 Euro

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