Der legendäre Chefreporter von Bunte berichtet von Begegnungen unter anderem mit Udo Jürgens, dem Dalai Lama oder Boris Becker. Leider lässt Sahner viele Geschichten von seiner Katze erzählen, was die Lesbarkeit nicht gerade erhöht.
Paul Sahner war der letzte große Gesellschaftsreporter: Der Auslöser zahlreicher Skandale gilt als überragender Interviewer, dem eine fast hypnotische Art der Wahrheitsfindung nachgesagt wird. Tatsächlich gibt es fast keinen, den Sahner nicht vors Mikrofon oder ans Telefon bekommen hätte. Nun ist Paul Sahner im Juni 2015 kurz nach Fertigstellung seiner Autobiografie "Ich hatte sie fast alle!" überraschend im Alter von 71 Jahren verstorben.
Wer wird verpetzt?
Spätestens seit Erscheinen von Dieter Bohlens Promi-Buch "Nichts als die Wahrheit" wittert man instinktiv den Skandal; und eine Banderole in Nachrichten-Rot verspricht unbedingt Wissenswertes: So habe Sahner Hausverbot am schwedischen Königshof erhalten, Boris Becker habe ihn ertränken wollen und Udo Jürgens habe ihm seine Neigung zu jungen Frauen gestanden. All das nimmt man dem Promi-Reporter nicht nur ab, sondern verspricht einen spannenden Blick ins Reporter-Nähkästchen.
Im Buch erwartet den Leser dann eine Überraschung: Paul Sahner plaudert nicht etwa aus seinem Leben, sondern lässt sich - aus welchen Grund auch immer - von seiner Katze Socki interviewen. Seitenweise arbeitet sich der Leser zudem durch ein in schwer lesbarer Schreibschrift-Typo umgesetztes Tagebuch, in dem die Katze ihr Herrchen analysiert.
Mehr als nur Katzengejammer
Zum Glück lässt sich der Autor dann doch auch selbst mal zu Wort kommen, und dann wird´s im wahrsten Sinne des Wortes "bunt". Mit großem Fingerspitzengefühl für Szenen und Situationen beschreibt Paul Sahner anekdotenhaft einige Begegnungen mit Stars. Beim Besuch beim Dalai Lama erlebt der Leser ein faszinierendes Tohuwabohu um den geistigen Führer der Buddhisten, der einen ungeheuren Optimismus ausstrahlt.
Die Herangehensweise, wie man boulevard-journalistisch den Hintergrund von Menschen ausleuchtet, erklärt Sahner plastisch anhand der Vorberichterstattung zur Trauung der schwedischen Königin Silivia mit ihrem Carl Gustav.
Karl Lagerfeld erlebt der Leser als Regisseur, der selbst im Privaten sein riesiges Anwesen wie ein Schlossherr mit Dutzenden von Angestellten dirigiert. Oder auch der Besuch in Andy Warhols Factory: Herrlich, wie Paul Sahner den Kult im den PopArt-König beschreibt und die bunt gemischte Entourage an Weltstars, Junkies und Verrückten. In diesem irren Zirkus der Kreativen macht Sahner weitere Weltstars wie den US-Schriftsteller Truman Capote aus und erweckt sie mit ihrem exzentrischen Habitus in großer Plastizität vor dem Auge des Lesers zum Leben.
Fazit: Wer Paul Sahner noch persönlich erlebt hat, kennt seine launige Art, Anekdoten zum Besten zu geben. Diesen unterhaltsamen Stil hat Sahner allerdings nicht gewählt. Was seine Katze Socki in diesem Buch verloren hat, bleibt bis zum Ende verborgen. Insbesondere wird der Lesefluss durch die auch noch in Schreibschrift gedruckten Tagebuch-Passagen gestört. Sahner brilliert aber genau dann, wenn er tatsächlich selbst seine Erlebnisse beschreibt: Statt zu lästern, führt er in ein Universum voller Glamour ein, das dem Normalsterblichen verborgen bleibt. Das macht "Ich hatte sie fast alle" trotz der spürbaren Selbstverliebtheit des Autors wiederum lesenswert.
Für wen eignet sich´s? Die jahrzehntelange Erfahrung im Celebrity-Geschäft legt bereits nahe, dass Sie hier nichts über Eintagsfliegen der Casting-Shows erfahren. Hier geht es um den bizarren Wahnsinn der wirklich großen Stars. Aber - Sahner lästert nicht wirklich und verpetzt auch keinen. Er beschreibt, beobachtet, illustriert. Wer Skandälchen im Stile der Bohlen-Bücher liebt, kann sich "Ich hatte sie fast alle" sparen. Allen anderen gibt Sahner einen guten Einblick in den Medienrummel.
Topnews
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Wetten, dass: Die Highlights, die Pannen, die Dramen
Was taugt das Buch zur Pro7-Serie "Zoo"?
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Was macht ein Zooleopard mit einer Maus?
Der Goldene Handschuh – Heinz Strunks literarisches Porträt eines Serienmörders und seines Milieus
„Parasite Deep – Parasiten aus der Tiefsee“ von Shane McKenzie: Tentakel, Terror und toxische Dynamik auf hoher See
Die völlig andere Zombie-Invasion
„Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle“: Zwischen politischer Erinnerung und persönlicher Abrechnung
Ich, Prince Boateng – Zwischen Show, Schatten und Selbstbehauptung
So viel Spaß macht die Apokalypse
Pauline Dohmen: 31 Schnitte für die komplette Kids-Garderobe
Mutmachbuch für Machos
Ein entsetzliches Vergnügen
Gökers Autobiografie kommt in den Buchhandel
Das Orakel vom Berge Rezension | Philip K. Dick – The Man in the High Castle & Alternative History
Aktuelles
Mein Leben in deinem von Jojo Moyes – High Heels, tiefe Risse
Zurück ins Leben geliebt von Colleen Hoover – Regeln, die Herzen brechen
Für immer ein Teil von dir von Colleen Hoover – Schuld, Scham, zweite Chancen
Was geht, Annegret? von Franka Bloom – Neustart mit Roulade: Wenn Alltag zur Revolte wird
Bücherfestival Baden-Baden 2025
Saidi Sulilatu – Finanzen ganz einfach
Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz
Herbst der Utopien – warum wir das Hoffen verlernt haben
Heart of the Damned – Ihr Versprechen ist sein Untergang von Julia Pauss –„Auf alle Diebe wartet der Tod. Nur auf mich nicht.“
Bonds of Hercules – Liebe das Monster in mir von Jasmine Mas – Wenn der Funke zur Fessel wird
Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger – Aufbruch ins Offene: Wenn True Crime zur Fata Morgana wird
Leider Geil von Sophie Ranald – Vom „braven Mädchen“ zur eigenen Stimme
Das Haus meiner Schwester von Rebekah Stoke – Glitzer, Gier, Grenzen
„Herr Lehmann“ – Sven Regeners melancholisch-komisches Kneipenkonzentrat
Welcome Home – Du liebst dein neues Zuhause. Hier bist du sicher. Oder? von Arno Strobel – Wo Sicherheit endet und Paranoia anfängt
Rezensionen
Tolstoi: Krieg und Frieden
Falling Like Leaves von Misty Wilson – Herbstluft, Herzklopfen, Heimkehr