Der 26-jährige Autor Édouard Louis wird längst als Shooting-Star der französischen Literatur gefeiert. Seine Prosa ist roh, kämpferisch, anklagend und konfrontativ. Sein neues Buch trägt den Titel "Wer hat meinen Vater umgebracht" und wird als literarisches Äquvivalent zur Bewegung der Gilets Jaunes (der Gelbwesten) gehandelt.
"Man muss so schreiben, in Büchern von Dingen so sprechen, dass sie unerträglich werden für die Bourgeoisie." schreibt Édouard Louis. Gemeint sind damit jene Dinge, jene Momentaufnahmen zersplitterter Leben, denen wir in der Streitschrift "Wer hat meinen Vater umgebracht" begegnen. Es sind die Eindrücke von Leben, von denen "niemand hören" will.
Ängste und Demütigungen
Erzählt werden assoziativ zusammengesetzte Erinnerungen. Da ist der Kampf des Vaters, der, wie andere Arbeiter seiner Klasse auch, nichts so sehr fürchtet, wie den Verlust der eigenen Männlichkeit. Das Ankämpfen gegen diesen Verlust wirkt sich auch auf den sich nach Liebe sehnenden Sohn aus, der gerade seine Homosexualität entdeckt und immer wieder zurückgestoßen wird. Als Grund der von seinem Vater ausgehenden Gewalt, entdeckt Louis tieferliegende Ängste und Demütigungen:
"Du bist gerade mal über fünfzig. Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat."
Wut, Gewalt und Frustration
Triebfeder dieses Schreibens ist der Versuch des Aufbrechens. Édouard Louis will nicht als Außenstehender den Blick auf eine bestimmte Bevölkerungsschicht legen, sondern aus dieser heraus sprechen. Immer begleitendes Grundgefühl dieses Sprechens ist ein Gemsich aus Wut, Gewalt und Frustration. Es sind jene Gefühlsregungen, die nicht nachzuschreiben, nicht zu spielen, und in der hier anzutreffenden Intensität nur aus der Perspektive einer Person heraus darzustellen sind, die selbst Mit-Erlebender war, Miterlebender ist.
So beschrieb Louis in seinem ersten Roman "Das Ende von Eddy" die Kindheit eines sensiblen, schwulen Jungen, der - zwischen Erniedrigung und Peinigung - in einer Utopielosen Arbeiterklasse aufwächst. Ungeschützt setzte der Autor sein eigenes Ich in einen gesellschaftlichen Kontext. Ebenso wie im aktuellen Buch. Ganz gleich um welches seiner Werke es sich handelt, immer stellt Louis die Frage nach den Zusammenhängen von Macht, Gewalt, Unterdrückung und eigener Ohnmacht.
"Politik ist für den Armen immer persönlich"
"Wer hat mein Vater umgebracht" soll nicht als Pamphlet des Protests gelesen werden, betont der Autor. Und in der Tat reicht es weit darüber hinaus, braucht es doch nicht zwingend ein Protest, um auf strukturelle Gewalt aufmerksam zu werden. Am Beispiel seines Vaters zeigt Loiuis hier dennoch auf, was oftmals als "gewöhnlich" übersehen wird:
„Politik ist für den Armen immer persönlich. Für meinen Vater waren die Entscheidungen von Macron oder Sarkozy so persönlich wie sein erster Kuss oder sein erstes Mal. Wenn Du in Frankreich reich bist und links eingestellt, kann Dir eine rechte Regierung nicht wirklich etwas anhaben. Aber wenn Du ein Migrant bist, der nicht ins Land darf und somit im Meer umkommt, dann sind politische Entscheidungen für Dich verbunden mit ganz essentiellen Fragen: Werde ich überleben, werde ich etwas zu essen haben. Werde ich sterben?“
Sich in aufregenden Zeiten aufregen! Sich Einmischen! Unbequem werden! Das ist die unbequeme, aufregende Botschaft, mit der sich Édouard Louis in diesen Tagen einmischt. Seine Werke sind dabei keine Taschenbuchanleitungen für Champagner-Revoluzzer, die das Dagegen-Sein ausprobieren möchten, sondern vielmehr ein Hinweis auf die süffisanten Mienen derselben, wenn diese gerade dabei sind, diesen Versuch zu wagen.
Édouard Louis, "Wer hat meinen Vater umgebracht" (aus dem französischen von Hinrich Schmidt-Henkel), S. Fischer Verlag, 2019, 80 Seiten, 16 Euro
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