Salman Rushdie: Die elfte Stunde

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Ein Schatten ohne Schatten. So beschreibt ein alter Mann den Moment nach dem Tod seines Nachbarn. Es ist ein leiser Satz in einer stillen Szene – und zugleich das Zentrum dieser Erzählung: „Im Süden“, Auftakt zu einem Band, der sich der Frage widmet, wie sich ein Leben erzählt, wenn es fast vorbei ist. Fünf Geschichten umfasst Die elfte Stunde, angesiedelt in Mumbai, Cambridge, Oklahoma, auf einer italienischen Piazza – aber immer auch im Zwischenraum: zwischen Leben und Tod, Erinnerung und Vergessen, Sprechen und Verstummen.

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Die elfte Stunde: Erzählungen

Der Titel benennt eine Schwelle. Nicht den Tod, sondern die Stunde davor. Ein Zeitraum, der sich zieht, in dem Zeit selbst porös wird. Rushdie interessiert sich nicht für das Jenseits, sondern für das Danach-im-Davor: für das Sprechen im Echo, für das Dasein als Rest.

Protokolle des Alters

„Im Süden“ erzählt von zwei alten Männern, Senior und Junior, die einander täglich widersprechen. Ein Leben lang. Ein Streit in Raten, ritualisiert wie ein Gebet. Sie wohnen nebeneinander, teilen einen Namen, eine Straße, eine Geschichte – und bleiben doch Gegenspieler. Ihre Dialoge folgen dem Rhythmus karnatischer Musik: Rede, Antwort, Variation. Ihr Verhältnis: ein Duell, das auf Einvernehmen gründet. Als einer von beiden stirbt, bleibt der andere allein mit dem Schatten, den niemand mehr wirft.

Die Sprache dieser Geschichte ist dicht, aber nicht gedrängt. Sie registriert. Die Gluthitze am Morgen. Die kreischenden Babys. Die Stille nach dem Tod. Das Detail ist nie Dekoration, sondern Diagnose. Das Alter zeigt sich nicht im Rückblick, sondern im Verschwinden des Widerstands: Treppen werden riskant, Verwandtschaften unerträglich, Erinnerungen unzuverlässig. Der Alltag ist Verfallsform.

Senior und Junior sind keine Figuren im klassischen Sinn. Sie sind Positionen. Perspektiven auf ein Leben, das schon zu großen Teilen hinter ihnen liegt und sich doch täglich wiederholt. Die große Frage lautet: Was bleibt, wenn der letzte Gegenüber verstummt? Die Antwort ist: ein Schatten ohne Schatten. Ein Ich, das sich nicht mehr spiegelt. Das Bild trägt nicht symbolisch, sondern konkret – als Zustand.

Gedächtnis, gebrochen

Auch in den anderen Geschichten wird das Fortleben im Verschwinden verhandelt. Eine Musikerin, deren Gabe sich gegen sie wendet. Ein Schriftsteller, der als Geist seine unvollendete Geschichte zu Ende bringen will. Ein altes Manuskript, das zu spät ankommt. Ein Mann, der das Verstummen der Sprache beobachtet, ohne noch etwas sagen zu können.

Rushdie montiert diese Geschichten ohne Pathos, aber mit rhythmischer Genauigkeit. Der Tod kommt selten mit Lärm. Meist ist es ein Knöchel, der nachgibt. Eine Vespa, die zu nah fährt. Ein letzter Satz, der nicht gesprochen wird. Die Geisterstunde ist in diesen Texten kein Schauer, sondern eine Art akustischer Rest: das, was nach dem Erzählen noch hörbar bleibt.

Dabei bleibt Rushdie bei sich: Die Erzählweise ist geschmeidig, die Ironie zurückgenommen, die Bilder kontrolliert. Magie tritt auf, aber unauffällig – als Möglichkeit, nicht als Lösung. Sprache wird fragil, aber nicht aufgegeben. Erinnerung ist kein Besitzstand, sondern ein Rauschen.

Erzählen als Widerstand

Auffällig ist, wie sehr diese Texte das Erzählen selbst thematisieren. Die Geschichten stellen keine Diagnosen, sie schaffen Situationen. Das Schreiben erscheint nicht als Flucht, sondern als letzte Form der Selbstvergewisserung. Die Protagonisten dieser Erzählungen erzählen nicht, um gehört zu werden – sondern um nicht zu verschwinden. In „Saumselig“ wird ein toter Dozent zum spukenden Erzähler, weil seine Geschichte noch offen ist. In „Der alte Mann auf der Piazza“ sieht jemand, wie Sprache sich auflöst – und schweigt.

In dieser elften Stunde verliert das Ich seine Ränder. Was bleibt, ist ein fragmentiertes Selbst, das sich nicht mehr festschreiben lässt. Rushdies Figuren wirken nicht abgeschlossen, sondern ausgesetzt. Der Tod, wenn er kommt, ist kein Ende, sondern ein Abbruch. Kein Punkt. Ein Verschwinden mitten im Satz.

Ein Schatten….

Die elfte Stunde ist kein Alterswerk im emphatischen Sinn. Es bilanziert nicht, es überhöht nichts, es erklärt wenig. Es ist ein spätes Buch, das das Späte nicht betrauert, sondern beobachtet. Wie Licht in der letzten Stunde des Tages – schräg, weich, aber unbestechlich.

Was bleibt? Vielleicht nur ein Schatten, der keinen mehr wirft. Und ein Satz, der sich erinnert, dass er nicht mehr ausgesprochen werden muss, um da zu sein.

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