Gespenster denken nicht – Shakespeares Hamlet als Gedankenreise durch ein zersetztes Drama

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Shakespeare Shakespeare HAMLET DALL E prompt by lesering

Ein Wachposten steht auf einer kalten Mauer. „Who’s there?“ – dieser erste Satz in Hamlet ist mehr als bloße Szeneinführung: Er ist eine Verunsicherung auf allen Ebenen, eine sprachliche, dramaturgische und existentielle Verschiebung, mit der Shakespeare sofort zeigt, dass in diesem Stück die Gewissheiten fehlen werden, auf die ein klassisches Drama sonst baut. Es gibt keinen klaren Anfang, keine vertrauenswürdige Stimme, nicht einmal die Sicherheit, wer eigentlich spricht oder gemeint ist. Statt Orientierung: Zweifel. Und genau mit diesem Zweifel beginnt auch Hamlets Weg – ein Weg, der sich weniger durch Ereignisse als durch Denkbewegungen strukturiert.

Was folgt, ist keine klassische Tragödie mit Fallhöhe und Katharsis, sondern ein zentrifugales Gedankenstück, das sich selbst zersetzt, während es noch gesprochen wird. Kein Schicksal, keine Fügung, keine ordnende Moral. Nur Sprache. Und ein junger Mann, der spricht, weil er nicht weiß, wie man handelt.

I. Der junge Mann in Schwarz

Als Hamlet zum ersten Mal auftritt, ist er in Schwarz gekleidet – nicht als Geste der Rebellion, sondern als Ausdruck realer, tiefer Trauer. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter hat wenige Wochen später den Bruder des Verstorbenen geheiratet, der nun auch noch auf dem Thron sitzt. Die Welt ist aus den Fugen, aber niemand benennt das offen. Nur ein Geist, der Vater vielleicht, berichtet von einem Mord.

Hamlet selbst glaubt nicht sofort. Statt zu reagieren, beginnt er zu beobachten, zu hinterfragen, sich zu verstellen. Er spielt mit der Möglichkeit des Wahnsinns, nicht weil er verwirrt ist, sondern weil es der einzige Modus zu sein scheint, in dem man in dieser Welt ungestraft zweifeln darf. Bereits in diesen ersten Szenen wird deutlich, dass sich in diesem Stück nichts eindeutig auflösen lässt: Jede Handlung erzeugt eine Gegenhandlung, jeder Gedanke hallt mehrfach zurück.

Die berühmten Monologe – allen voran „To be, or not to be“ – sind daher keine heroischen Selbstbefragungen, sondern fragile Protokolle eines inneren Sprechens, das sich im Kreis dreht. Der ikonische Satz hat seine Berühmtheit weniger durch seine philosophische Tiefe erhalten, als durch das, was er im Kontext offenlegt: Er steht isoliert, ist nicht verknüpft mit einer konkreten Handlung, bleibt folgenlos. Der Gedanke führt nicht zu einer Entscheidung, sondern verliert sich in der eigenen Unabschließbarkeit.

Hamlet ist in diesem Sinne kein Ort, an dem etwas gelöst wird – sondern ein Raum, in dem sich Sprache ständig wiederholt und dabei immer mehr zerfällt.

II. Das Denken in Trümmern

Der Monolog als Totentanz – nicht metaphorisch, sondern strukturell. Hamlet denkt nicht nur viel, er denkt sich selbst an den Rand des Zusammenbruchs. In den literarischen Vorlagen, insbesondere in François de Belleforests französischer Bearbeitung der alten Amleth-Sage, war die Handlung klar: Der Sohn rächt den Vater, der Onkel ist schuldig, die List ist Teil des Plans und führt zum Ziel. Auch dort gibt es Melancholie, aber sie ist eingefasst in ein moralisches Gefüge.

Shakespeare übernimmt diesen Stoff – und zerschlägt seine Ordnung. Hamlet wird bei ihm nicht zum listigen Helden, sondern zu einem Träger von Widersprüchen, zu einer Figur, die mehr weiß, als sie ertragen kann. Seine Sprache ist zirkulär, seine Reflexionen führen nicht zu Erkenntnis, sondern zu Blockade. Er täuscht Wahnsinn vor – aber verliert sich im Spiel. Und dieses Spiel ist nicht mehr durchschaubar, weil die Realität selbst in Frage steht.

Nichts ist mehr sicher: weder die Tat, noch das Gefühl, noch das Ich. Die Handlung wird zur Oberfläche – darunter liegt ein Zustand, der sich jeder Klarheit entzieht.

III. Der Staat als familiäres Trugbild

Dass in Dänemark etwas faul ist, wird früh ausgesprochen – doch woran genau der Verfall liegt, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Der Mord ist vielleicht nur Symptom. Was wirklich stört, ist die Unfähigkeit zur Trauer, die Geschwindigkeit, mit der der Tod des alten Königs überspielt wird. Claudius’ politisches Handeln ist effizient, fast modern – seine Ehe mit Gertrude rationalisiert er als Notwendigkeit. Und Gertrude? Sie bleibt ambivalent. Liebend? Berechnend? Schuldlos? Das Stück lässt sie schweigend offen.

In dieser Welt wird jede Beziehung zur Strategie. Sprache dient nicht dem Austausch, sondern der Kontrolle. Selbst Ophelia wird instrumentalisiert – von Vater, Bruder, Hof. Sie hat keine eigene Stimme, nur die Schatten derer, die sie benutzen. Ihr Wahnsinn wirkt fast wie ein Widerstand: der einzige Moment, in dem sie etwas durchdringen lässt, das nicht mehr in Ordnung ist. Dass sie daran zerbricht, ist keine individuelle Tragödie, sondern Ausdruck eines Systems, das keine echte Nähe mehr zulässt.

Am Ende ist sie tot – wie fast alle anderen.

IV. Ursprung: Von Amleth zu Hamlet

Die Geschichte von Hamlet beginnt nicht mit Shakespeare. Im 12. Jahrhundert schrieb Saxo Grammaticus die „Vita Amlethi“ nieder, eine Geschichte über einen jungen Mann, der den Tod seines Vaters rächt, indem er sich wahnsinnig stellt und schließlich seinen Onkel tötet. Eine klare Handlung, lineares Erzählen, funktionale Maskerade.

Im 16. Jahrhundert erzählt François de Belleforest die Geschichte neu. Sein Amleth ist melancholischer, reflektierter, das Geschehen bekommt psychologische Tiefe. Doch auch hier bleibt die Ordnung erhalten: Es gibt Schuld, es gibt Gerechtigkeit, es gibt ein Ziel.

Shakespeare übernimmt beides – den Stoff und die Dunkelheit – und lässt die Handlung auseinanderbrechen. Aus Amleth wird Hamlet, aus Strategie wird Schwebe. Der Racheakt bleibt in der Schwebe, die Frage überlagert die Antwort. Der Stoff bleibt identisch – doch die Haltung ist eine völlig andere. Hamlet wird zum Resonanzraum für das, was im Denken selbst zerbricht.

V. Theater im Theater – Wahrheit als Fiktion

Der vielleicht stärkste Moment des Stücks ist jener, in dem Hamlet ein Theaterstück inszenieren lässt, um die Wahrheit über Claudius’ Schuld zu erfahren. Er will die Reaktion beobachten – denn sagen lässt sich ohnehin nichts mehr. Wahrheit muss gespielt werden, weil sie nicht mehr sagbar ist.

Doch auch das Spiel bringt keine Sicherheit. Claudius steht auf – ist das der Beweis? Oder ist es eine Flucht? Die Reaktion ersetzt die Erklärung. Wahrheit existiert nur noch in Andeutung. Und Theater wird zum einzigen Ort, an dem noch etwas sichtbar werden kann, was sich der Sprache entzieht.

Es ist eine tief moderne Geste – und gleichzeitig eine, die jede Form von Klarheit endgültig suspendiert.

VI. Rezeption: Vom Mord zur Melancholie

Als Hamlet um 1600 aufgeführt wurde, lebte das Publikum noch in einer Welt, in der Königsmord eine kosmische Erschütterung war. Das Übersinnliche hatte einen Platz im Denken, und das Drama konnte Ordnung wiederherstellen, wenn auch auf tragischem Weg. Belleforest schrieb in dieses Weltbild hinein: Melancholie, aber kein Zweifel an der Struktur.

Shakespeares Hamlet ist eine Absage an diese Struktur. Er zerstört nicht nur den Thron, sondern das Vertrauen ins Denken selbst. Seine Modernität liegt genau darin: nicht in der Handlung, sondern in der Reflexion.

Heute lesen wir Hamlet als psychische Fallstudie. Nicht nur, weil der Held zögert, sondern weil er zu viel sieht. Er ist ein Intellektueller am Rand des Zusammenbruchs, ein Subjekt, das seine Sprache nicht mehr beherrscht, sondern von ihr umstellt wird. Das Stück entwirft damit – vielleicht zum ersten Mal in der europäischen Literatur – ein Modell intellektueller Psychologie: Denken als Blockade, Sprache als Symptom, Identität als offene Struktur. Hamlet ist kein Charakter mit kohärenter Entwicklung. Er ist ein Raum, in dem das Denken sich selbst begegnet – und scheitert.

Das Gespenst ist kein Ruf aus einer anderen Welt mehr – es ist ein innerer Riss, der nicht heilt.

VII. Gedankenreise zum Ende – vom Ruf zur Leere

Am Anfang: „Who’s there?“ – die Frage, ob jemand da ist, ob noch jemand spricht, ob noch etwas gilt. Am Ende: „The rest is silence.“ Kein Schluss, keine Moral, kein Glaube an das letzte Wort.

Hamlet stirbt. Claudius auch. Fortinbras übernimmt, Ordnung wird behauptet – aber niemand glaubt mehr an sie. Zurück bleibt eine leere Bühne, ein Sprechen, das nichts mehr versichert, und ein Stück, das nur weiterlebt, weil es erzählt wird.

Diese Gedankenreise beginnt im Zweifel und endet in der Leere. Nicht, weil es keine Worte gegeben hätte – sondern weil sie nicht gereicht haben.


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