Ian McEwans „Was wir wissen können“: Ein Roman zwischen Rückblick und Zerfall
Ein verschwundenes Gedicht, eine untergegangene Welt und der kluge Irrtum der Nachgeborenen.
Irgendwann zwischen dem letzten Krieg und dem nächsten Tsunami hat sich die Welt in einen Zustand begeben, den man gemeinhin „danach“ nennt. Die Insel, auf der Thomas Metcalfe lebt, war einmal Großbritannien. Heute ist sie eine Ansammlung feuchtkalter Fährverbindungen, Segelrouten und E-Bikes mit Hartholzrahmen.
Metcalfe, Anfang vierzig, Professor für Literaturgeschichte, widmet sich dem, was übrig ist – nicht von der Welt, sondern von ihrer Beschreibung. Sein Forschungsfeld: die englische Literatur zwischen 1990 und 2030. Eine Epoche, die aus der Distanz von hundert Jahren plötzlich kohärent wirkt – wie ein Archiv, das sich durchforsten lässt, bis etwas spricht.
Etwas wie das: ein Sonettenkranz. Vorgetragen im Mai 2014, als Geburtstagsgeschenk an eine Frau namens Vivien Blundy, verfasst von ihrem Mann Francis, einem Lyriker von beinahe posthumem Rang. Danach: nichts mehr. Kein Druck, kein Manuskript, nur eine Erinnerung an etwas Einmaliges. Was davon bleibt, ist die Faszination für das, was fehlt – und McEwans Roman zieht daraus seine leise, aber beständige Spannung.
Von der Eleganz des Irrtums
Was wir wissen können ist ein Buch, das seinen Titel ernst nimmt, indem es ihn unterläuft. Der Erzähler – Thomas, nicht Ian – rekonstruiert nicht nur ein Gedicht, sondern eine Beziehung, eine Epoche, eine Frau. Oder glaubt es zumindest. Seine Arbeitsweise: archivgestützt, empathisch, mit dem Selbstverständnis eines Literaten, der nicht bloß forscht, sondern versteht.
Doch die Welt, in der er das tut, ist keine, die noch viel versteht. Die „Disruption“ hat das Land zerlegt – ökologisch, politisch, infrastrukturell. Der Meeresspiegel hat aufgeräumt, der Krieg gleich mit. Nigeria ist Weltmacht, Oxford ein Bergarchiv in Snowdonia, Metcalfes Studierende sitzen zusammengesunken am Seminartisch und blicken auf das 21. Jahrhundert wie auf eine Art Betriebsunfall.
Dass der Roman trotzdem in weiten Teilen aus dieser Vergangenheit erzählt wird, ist kein Widerspruch. McEwan lässt Metcalfe hineinfallen – in Briefe, Tagebücher, Messengerverläufe, in seine eigene Nostalgie. Vor allem aber in Vivien, die Witwe, die Dichtergattin, die spätere Autorin einer 170-seitigen Selbstzerschreibung, die den zweiten Teil des Romans prägt.
Denn natürlich ist nichts, wie es scheint. Auch das nicht.
Der Sonettenkranz als Phantomschmerz
Francis Blundy – ein Name wie aus dem Mittelfeld der englischen Poesiegeschichte – hat mit seinem verschwundenen Gedicht ein kleines Wunder bewirkt: Jahrzehntelange Projektion. Was genau dieses Gedicht war, bleibt unklar. Eine Liebeserklärung? Eine Ökokritik? Eine Abrechnung mit der fossil betriebenen Welt? Oder schlicht: schön?
Metcalfe hält es für alles zugleich. Es ist das, was fehlt – und damit das, was sich mit Sinn aufladen lässt. McEwan spielt dieses Spiel kenntnisreich aus, zitiert Fragmente, legt Fährten, zerstört Erwartungen. Der Kranz bleibt ein Phantom. Doch in der Leerstelle beginnt die Erzählung.
Vivien tritt auf
Was der Erzähler glaubt, über Vivien zu wissen – ihre Ehe, ihre Hingabe, ihr Rückzug aus der akademischen Karriere –, erweist sich als Konstruktion. Spätestens mit dem Fund der Aufzeichnungen, tief im Archiv, wird deutlich: Auch Biografen irren sich. Vor allem, wenn sie mehr lieben als lesen.
Vivien schreibt gegen das Bild an, das Thomas von ihr hatte. Nicht trotzig, nicht brutal, sondern schlicht präziser. Ihre Erinnerungen, ihre Rache, ihre Affären, ihre Schuld: nichts davon spektakulär inszeniert, aber wirkungsvoll platziert. McEwan gelingt hier eine zweite Figur, die nicht korrigiert, sondern überschreibt.
Und plötzlich wird der Roman, der sich bislang zwischen Forschungsethik und postkatastrophaler Weltbeschreibung bewegte, zu einem Text über Projektion, Begehren, Deutung. Auch über das Versagen von Empathie als Methode historischer Erkenntnis.
Die Technik der Korrektur
McEwan ist kein Autor, der Dinge dem Zufall überlässt. Auch in Was wir wissen können ist das nicht anders. Die Struktur ist durchdacht, die Übergänge gezielt rau. Dass der zweite Teil wie ein Bruch wirkt, ist gewollt. Der Erzähler wird seiner Rolle enthoben, die Figur übernimmt.
Was sprachlich bleibt, ist eine ruhige Klarheit, ohne Pose. Robbens Übersetzung trägt diese Lakonie überzeugend mit – nie angestrengt, aber auch nie belanglos. Die Zukunft ist hier nicht stilistischer Vorwand, sondern narrative Notwendigkeit.
Denn natürlich geht es McEwan nicht um Technik oder Weltentwürfe. Die Welt, die er beschreibt, ist ausgebeutet – ökologisch, emotional, auch literarisch. Was bleibt, ist das Erzählen. Und das Scheitern daran.
Am Ende: ein anderes Wissen
Was dieser Roman weiß, ist weniger als das, was er vermutet. Und das ist sein Gewinn. Keine Gewissheit, keine Auflösung, kein Triumph der Aufklärung. Stattdessen: eine vorsichtige Demontage dessen, was literarische Aneignung im besten Fall sein kann – und im schlechtesten Fall ist.
Der große Fund ist nicht das Gedicht, sondern das Eingeständnis, dass ein anderes Wissen existiert. Eins, das sich nicht durch Recherche erschließt, sondern durch das Aushalten des Nichtwissens.
Dass McEwan das erzählt, ohne es zu verkünden, ist seine eigentliche Kunst. Kein Roman über Erkenntnis. Ein Roman über die Korrektur von Annahmen. Über die Lücke zwischen dem, was war, und dem, was daraus gemacht wird.