Ein Hafen, überfüllt mit Menschen, die hinauswollen – in ein anderes Land, in eine ungewisse Zukunft. So beginnt Anna Seghers’ Roman Transit (1944), geschrieben im französischen Exil, veröffentlicht in Mexiko. Wer diese Szenen liest, denkt unwillkürlich an heutige Bilder: Geflüchtete an den Außengrenzen Europas, Menschen zwischen Hoffnung und Abweisung, zwischen Papierstapeln und Stacheldraht.
Literaturgeschichte ist selten so unmittelbar gegenwärtig.
Seghers’ Transit: Papierkrieg im Exil
Die Handlung von Transit spielt im Marseille der 1940er Jahre. Der Erzähler, ein deutscher Flüchtling, strandet dort und versucht, Ausreisepapiere zu bekommen. Konsulate, Visa, Stempel – der Papierkrieg wird zum eigentlichen Gegner.
Es ist eine paradoxe Spannung: Wer vor politischer Gewalt flieht, wird von Bürokratie gefangen. Genau dieser Widerspruch prägt auch heutige Asylerfahrungen: Die Grenze verläuft nicht mehr nur zwischen Ländern, sondern zwischen Dokumenten.
Die politische Dimension: Literatur gegen das Vergessen
Anna Seghers war selbst betroffen: Jüdin, Kommunistin, Gegnerin des Nationalsozialismus. Ihr Exil führte sie über Frankreich nach Mexiko. Aus dieser Erfahrung heraus schrieb sie Transit – keinen Heldenroman, sondern ein Protokoll der Verlorenheit.
Ihre Literatur ist nicht „engagiert“ im belehrenden Sinn, sondern existenziell. Sie zeigt, wie Menschen im politischen Sturm ihr Leben sichern – und wie Bürokratie, Zufall, Willkür über Schicksale entscheiden.
Warum sie heute wieder wichtig ist
In Zeiten globaler Fluchtbewegungen wirkt Seghers’ Blick beklemmend vertraut. Die Geschichten ändern sich, die Mechanismen bleiben. Wer heute über Flucht schreibt, muss nicht neu erfinden, sondern kann bei Seghers lesen, wie es sich anfühlt, zwischen Ankunft und Abschiebung zu hängen.
Ihre Texte erinnern daran, dass Exil nicht nur Verlust bedeutet, sondern auch neue Perspektiven. Sie selbst fand im Exil andere Stimmen, andere Erzählweisen. Exil ist nicht nur Trauma, sondern auch ein Raum des Widerstands.
Widerstand als Haltung
Seghers schrieb nicht nur über Flucht, sondern auch über Widerstand. In Das siebte Kreuz (1942) schildert sie die Flucht von sieben Häftlingen aus einem KZ, von denen nur einer entkommt. Die Kraft dieses Romans liegt in der Mischung aus Brutalität und Hoffnung: Trotz aller Repression gibt es Handlungsspielraum, Solidarität, Mut.
Dass dieses Buch schon 1942 erschien, macht es zu einem der wichtigsten literarischen Zeugnisse im Angesicht des Nationalsozialismus. Heute, da autoritäre Systeme wieder erstarken, hat es nichts an Relevanz verloren.
Wider den Anfängen
Warum also Anna Seghers neu lesen? Weil sie keine abstrakten Theorien liefert, sondern Geschichten, die das Politische unmittelbar ins Leben holen. Sie zeigt, wie großpolitische Entscheidungen in Alltagsbiografien einschlagen.
In einer Zeit, in der Migration und Exil wieder zu Schlüsselthemen geworden sind, erinnert uns Seghers daran: Literatur kann denjenigen eine Stimme geben, die zwischen Formularen und Schlagzeilen verloren gehen.
Über die Autorin
Anna Seghers (1900–1983), geboren als Netty Reiling in Mainz, schrieb Romane und Erzählungen, die zu den bedeutendsten Exilwerken der deutschen Literatur gehören. Ihr international erfolgreichster Roman Das siebte Kreuzwurde 1944 in den USA verfilmt. Nach 1945 lebte sie in Ost-Berlin und prägte dort als Vorsitzende des Schriftstellerverbands die Kulturlandschaft der DDR.
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