Am 13. September 1916 wird in einem Vorort von Cardiff ein Junge geboren, den seine Eltern Roald nennen – benannt nach dem norwegischen Polarforscher Amundsen, in der Hoffnung, dass auch ihr Sohn einst große Entdeckungen machen möge. Der Wunsch geht in Erfüllung, wenn auch anders als gedacht: Nicht Eis und Schnee wird Roald Dahl erobern, sondern Kinderzimmer, Bibliotheken und die schwer greifbare Grauzone zwischen kindlicher Fantasie und erwachsener Verlogenheit.
Dahls Eltern sind norwegischer Herkunft, der Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann, die Mutter eine warmherzige, aber resolute Frau mit Sinn für Geschichten. Früh trifft ihn das Schicksal: Mit drei Jahren verliert er seine ältere Schwester, kurz darauf stirbt sein Vater. Die Mutter entscheidet sich gegen die Rückkehr nach Norwegen – sie bleibt in Großbritannien, um ihren Kindern eine „gute englische Ausbildung“ zu ermöglichen. Ob das ein Fehler war, sei dahingestellt – für die spätere literarische Karriere ihres Sohnes war es jedenfalls Stoff in Reinkultur.
Schläge, Aufläufe und literarischer Trotz
Roald Dahls Schulzeit ist eine einzige Demütigung. Er besucht Internate, in denen Autorität nicht erklärt, sondern mit dem Stock vermittelt wird. Die Erwachsenen erscheinen ihm als Tyrannen mit schlechten Zähnen und noch schlechterem Charakter. Seine autobiografischen Erinnerungen Boy – Tales of Childhood und More About Boy sind Zeugnisse einer Kindheit im Dienste britischer Disziplin. Sie enthalten, bei allem Witz, auch eine stille Anklage: gegen ein Bildungssystem, das Kinder nicht erzieht, sondern dressiert.
Hier findet sich der Ursprung eines erzählerischen Grundmotivs: Kinder gegen Erwachsene, Fantasie gegen Macht, Ungehorsam als einzige Form der Selbstbehauptung. Was Dahl erlebt, wandert später – literarisch verwandelt – in seine Romane: Der sadistische Schuldirektor in Matilda, die unerträglichen Tanten in James und der Riesenpfirsich, die verlogenen Erwachsenen in Hexen hexen – alle tragen Spuren realer Züchtiger.
Krieg, Spionage und der Umweg zum Schreiben
Nach dem Schulabschluss geht Dahl nach Afrika, arbeitet für die Shell Oil Company – ein Abenteuer, das ihm besser gefällt als jeder Hörsaal. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldet er sich freiwillig zur Royal Air Force. Er wird Pilot, stürzt in der Wüste ab, überlebt schwer verletzt. Der Krieg bringt ihm nicht nur Narben, sondern auch eine neue Richtung: In seiner Zeit als britischer Militärattaché in Washington beginnt er zu schreiben – erst kurze Erzählungen, dann Kindergeschichten, schließlich ganze Romane.
Dahl lernt den Schriftsteller C. S. Forester kennen, der ihn ermutigt. Sein erster großer Erfolg wird James and the Giant Peach (1961), gefolgt von Charlie and the Chocolate Factory (1964). Von da an geht es bergauf – zumindest literarisch. Privat bleibt Dahl ein schwieriger Charakter, ein Mann mit Hang zu Dominanz, Sarkasmus und politisch wenig reflektierten Meinungen. Seine Ehe mit der Schauspielerin Patricia Neal wird zur emotionalen Berg- und Talfahrt, die vom Tod einer Tochter und der Krankheit eines Sohnes überschattet wird.
Subversion als Markenzeichen
Roald Dahls Kinderbücher sind keine Spielplätze, sondern Versuchsanordnungen. Er setzt Kinder unter Druck, konfrontiert sie mit Angst, Ekel, Willkür – und lässt sie daran wachsen. Seine Heldinnen und Helden sind nicht süß, sondern klug, nicht brav, sondern eigensinnig. Matilda liest gegen die Dummheit der Erwachsenen an – und starke Mädchen wie sie lassen in Vertretung ihrer Leser Lehrer durch die Luft fliegen. Sophie in Der große freundliche Riese verliert die Angst vorm Schlafen – denn was könnte nächtliche Bedrohung besser bannen als ein Riese, der Träume verteilt? James, der tapfere Pfirsichreisende, wächst einfach an allem – so selbstverständlich wie sein Pfirsich es tut. Und Charlie führt uns durch die Schokoladenfabrik und zeigt, dass man mit wachen Augen und offenem Herzen bestehen lernt – nicht durch Lautstärke, sondern durch leise Loyalität.
Dahl schreibt mit Lust an der Übertreibung, am sprachlichen Spiel, an der grotesken Pointe. Er erfindet Wörter, formt Sätze, die klingen wie Kaugummi mit Knallbonbonfüllung. Seine Geschichten sind didaktisch, ohne zu moralisieren – sie zeigen, was falsch läuft, aber sie sagen nie: So musst du sein. Das macht sie stark – und heute noch lesbar.
Schwarzer Humor auch für Erwachsene: Die Lammkeule als Mordwaffe
Roald Dahl schrieb nicht nur für Kinder – auch Erwachsene kamen in den zweifelhaften Genuss seiner Fantasie. Seine Kurzgeschichten sind kleine Meisterwerke der makabren Pointe, in denen der Alltag plötzlich in tödliche Absurdität kippt. Berühmt ist die 1953 erstmals erschienene Erzählung Lamb to the Slaughter – auf Deutsch meist Die Lammkeule.
Darin wartet Mary Maloney, eine scheinbar hingebungsvolle Ehefrau, sehnsüchtig auf ihren Mann. Doch Patrick eröffnet ihr nüchtern, dass er sie verlassen wird. Ohne Vorwarnung nimmt Mary eine tiefgefrorene Lammkeule aus dem Eisfach und erschlägt ihn – nicht in blindem Zorn, sondern in einer fast beiläufigen Bewegung, als würde sie eine Haushaltsaufgabe erledigen. Danach bereitet sie die Lammkeule zu und serviert sie ausgerechnet den Polizisten, die fieberhaft nach der Mordwaffe suchen.
Die Geschichte ist ein Musterbeispiel für Dahls schwarzen Humor: Eine harmlose häusliche Szene wird zur grotesken Farce, in der nicht Blutvergießen, sondern bittere Ironie im Zentrum steht. Besonders wirkungsvoll ist der Kontrast zwischen Marys äußerlich unschuldiger Fassade und ihrer kaltblütigen Berechnung. Dahl zeigt damit, dass er dieselbe Lust an Übertreibung, am Grotesken und an der Umkehrung von Machtverhältnissen auch in der Erwachsenenliteratur kultivierte – nur mit weniger Magie und umso mehr bitterer Realität.
Der Schatten hinter dem Witz
Kaum ein Autor, der so viele Kinder mit Fantasie beschenkte, blieb von späteren Schlagzeilen verschont. Auch bei Roald Dahl rückten einzelne Äußerungen in den Fokus, die Jahrzehnte später als antisemitisch gewertet wurden und schließlich von seiner Familie als „tief bedauerlich“ bezeichnet worden sind. Was folgte, war eine Welle medialer Empörung, die Dahl oft mehr als Symbolfigur denn als Mensch betrachtete.
Gerade 2023 zeigte sich die Dynamik solcher Debatten: Puffin Books veröffentlichte überarbeitete Ausgaben seiner Werke, mit geglätteten Begriffen und sensibler Sprache. Für die einen war dies notwendige Anpassung, für die anderen ein Eingriff, der mehr über heutige Empörungsrituale aussagt als über den Autor selbst.
Man vergisst dabei leicht, dass Dahl ein Mensch seiner Zeit war – geprägt von Krieg, Verlust und britischer Nachkriegsmentalität. Ihn allein mit heutigen Maßstäben zu messen, wirkt verkürzt. Seine eigentliche Bedeutung liegt nicht in Schlagzeilen, sondern in Büchern, die voller Witz, Abgründigkeit und Widerstandskraft sind – und die weit mehr erzählen als jede mediale Aufregung.
Wirkung und Vermächtnis: Die Ironie bleibt
Roald Dahl starb am 23. November 1990 in Oxford an den Folgen einer seltenen Blutkrankheit. Seine letzte Ruhe fand er in Great Missenden, jenem englischen Dorf, das lange sein Lebensmittelpunkt war. Doch seine Bücher leben weiter – in neuen Ausgaben, in Verfilmungen, auf Theaterbühnen. Der Roald Dahl Day am 13. September wird in Großbritannien noch immer gefeiert – in Schulen, Bibliotheken, mit Kostümen und Vorlesestunden.
Seine Figuren sind längst Teil der Popkultur: Willy Wonka, der schräge Zuckerfabrikant; Miss Trunchbull, die Alptraumdirektorin; die listige Matilda – sie alle sind Archetypen geworden, zwischen Märchen und Moderne. Und doch – man sollte nie vergessen, dass bei Dahl das Fantastische immer auch das Unheimliche streift. Seine Bücher sind keine Kuschelecken. Sie sind Lektüren, die kratzen dürfen. Vielleicht ist das ihr größter Wert: Sie nehmen Kinder ernst, weil sie wissen, dass Kinder die Welt ohnehin längst durchschaut haben.
Happy Birthday, Roald. Möge dein BFG weiter schnarchen, mögen deine Hexen noch immer in Hochhäusern hausen – und möge deine Schokolade nie ganz süß sein.