Am 18. Februar 2025 erscheint bei Hanser Berlin Dmitrij Kapitelmans neuer Roman Russische Spezialitäten. Auf 192 Seiten entfaltet der Autor eine Familiengeschichte, die zugleich politisch hochgradig aktuell und privat zutiefst intim ist. Ausgangspunkt ist ein kleiner Laden in Leipzig, in dem einst Wodka, Pelmeni, Matrjoschkas und Mineralwasser aus Myrhorod verkauft wurden. Was zunächst folkloristisch klingt, wird zum literarischen Brennglas für Fragen nach Zugehörigkeit, Identität und Verrat – und für die kaum erträgliche Erfahrung, wenn die eigene Mutter auf der falschen Seite der Geschichte steht.
„Oder aber die russischen Spezialitäten — Kaviar, Flusskrebse in Tomatensauce, gezuckerte Kondensmilch, Mirhorodskaya, aus echter Birke gemachte Birkengemälde, die CD mit den größten (und bedrückendsten) Hits von Wladimir Wissotzky — all diese Dinge waren etwas Vertrautes, Verständliches und Eigenes. Etwas, woran man sich festhalten konnte. In einem ansonsten völlig fremden, fliederflüchtigen und feindseligen Umfeld.“ (Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten)
Von Kyjiw nach Leipzig und zurück
Die Familie stammt aus Kyjiw, findet in Leipzig eine neue Heimat und eröffnet einen Laden mit „russischen Spezialitäten“. Doch seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wird dieser Begriff brisant: Das, was früher nach Nostalgie und Zugehörigkeit klang, ist nun vergiftet.
Die Mutter lebt in ihrer Welt aus russischem Fernsehen und sowjetischen Erinnerungen, sie hält Putins Krieg für gerechtfertigt. Der Sohn dagegen liebt alles, was sie verbindet – die Sprache, die Erinnerungen, die Stadt Kyjiw –, und doch trennt sie nun fast alles. In einem Versuch, die Mutter zurückzugewinnen, fährt er mitten im Krieg in die Ukraine.
Kapitelman erzählt dieses Familiendrama über den Umweg von Wetterberichten, Küchenritualen und Erinnerungen an den Laden im Leipziger Kleinzschocher. Der Alltag kippt ins Groteske: Russische Propagandameldungen über minus 30 Grad in Sibirien wechseln sich ab mit Szenen, in denen ein Moses im sibirischen Schnee imaginär Flusskrebse verteilt, oder ostdeutsche Legenden aus Fliederstaub neue Figuren gebären. Zwischen den satirischen Übertreibungen liegen fragile Momente von Nähe und Verletzlichkeit: ein kurzer Dialog zwischen Mutter und Sohn, ein Blick auf alte Fotos, ein Winterabend im Kyjiwer Wohnblock der 1990er-Jahre.
Ambivalente Erzählweise: Zwischen Kitsch und Erzählkino
Russische Spezialitäten ist ein zutiefst ambivalenter Roman. Vieles darin wirkt zunächst vorhersehbar: die überbordende Darstellung russischer Folklore, die Neonazis im ostdeutschen Plattenbau, die grotesken Szenen rund um sowjetische Erinnerungsstücke. Manchmal droht das ins Banale oder gar ins Kitschige zu kippen.
Doch genau in dieser Übertreibung liegt Kapitelmans Strategie. Er baut Erwartungshaltungen auf, überzeichnet sie, treibt sie bis an die Grenze der Albernheit – und bricht dann ab. Plötzlich öffnet sich der Text zu poetischen Szenen, die von großer literarischer Wucht sind. Wenn der Erzähler über die „Mutter-Sprache“ reflektiert, wenn er die Frage stellt, wem Sprache gehört, was sie kann und wofür sie missbraucht wird, dann gewinnt der Roman eine Tiefe, die über das Familiendrama hinausweist.
Die Wiederholung ist dabei ein zentrales Stilmittel. Das Wort „russisch“ wird mantraartig eingesetzt: russische Hunde, russischer Schnee, russische Wohnblöcke. Die Überfülle wirkt satirisch, aber auch beklemmend – sie macht deutlich, wie ein ganzes Land seine Wirklichkeit sprachlich besetzt.
Komik, Schmerz und politische Schärfe
Der Tonfall oszilliert zwischen Komik und Tragik. Da ist der russische Wetterreporter, der ohne Mütze bei minus 30 Grad warnt, worüber Mutter und Sohn kurz gemeinsam lachen. Ein Moment des Friedens – der sofort wieder bricht, wenn die Mutter im nächsten Satz die Kriegspropaganda verteidigt.
Gerade diese kurzen Inseln der Nähe machen die Entfremdung so schmerzhaft. Der Krieg ist hier kein fernes Geschehen, sondern dringt bis ins Wohnzimmer, bis an den Küchentisch. Die politische Spaltung wird zur familiären Katastrophe.
Sprachliche Eigenheiten
Kapitelmans Sprache ist rhythmisch, bildgesättigt und hochgradig repetitiv. Alliterationen wie „knackend kichernder Schnee“ verleihen Passagen eine fast kinderliedhafte Leichtigkeit, die jedoch mit brutalen Themen kontrastiert. Märchenhafte Szenen – Legenden, Zaubersterne, Eiszapfen, die ewige Gesundheit bringen sollen – stehen gleichberechtigt neben Schilderungen von Neonazi-Gewalt in Leipzig.
Der Text ist durchzogen von Codeswitching: russische und ukrainische Wörter tauchen auf, als Erinnerung an eine mehrschichtige Identität, die im Krieg zerreißt. Sprache wird hier nicht bloß Medium, sondern Figur. Der Erzähler ringt mit ihr, als könne sie ebenso verraten wie trösten.
Stärken und Schwächen
Der Roman ist stark, wenn er das Private und Politische unauflöslich miteinander verknüpft. Manche Szenen, vor allem die Rückblicke nach Kyjiw, entfalten eine poetische Kraft, die tatsächlich an „großes Erzählkino“ erinnert.
Schwächer ist das Buch dort, wo es sich zu sehr in Übertreibungen verliert. Einige Bilder wirken bemüht, manche Folklore-Elemente vorhersehbar. Es gibt Passagen, die sich fast zu sehr auf die satirische Wiederholung verlassen und den Lesefluss hemmen.
Gerade diese Spannung zwischen dem allzu Erwartbaren und den plötzlichen erzählerischen Durchbrüchen macht aber auch die Besonderheit des Buches aus. Russische Spezialitäten will kein makelloser Roman sein, sondern ein Werk, das Reibung erzeugt.
Eindeutige Leseempfehlung
Dmitrij Kapitelman erzählt in Russische Spezialitäten von einer Mutter und einem Sohn, von einer russischen Sprache, die Heimat und Fremdheit zugleich ist, und von einer ukrainischen Kindheit, die durch Krieg und Propaganda neu vermessen wird. Das Buch ist ambivalent: manchmal kitschig, manchmal banal, dann wieder von atemberaubender literarischer Kraft.
Es ist ein Roman über Sprache, über politische Spaltung im engsten Kreis und über das Gefühl, dass selbst Wetterberichte zu Waffen werden können. Kapitelman gelingt es, mit Humor, Bitterkeit und poetischer Überhöhung die Erfahrung der post-sowjetischen Diaspora im Zeichen des Ukraine-Krieges literarisch einzufangen.
Über den Autor Dmitrij Kapitelman
Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kyjiw geboren und kam als Kind mit seiner Familie nach Deutschland. Er ist Journalist und Autor, bekannt durch seine vielbeachteten Bücher Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016) und Eine Formalie in Kiew (2021). In beiden Werken thematisiert er Migration, Zugehörigkeit und Identität. Mit Russische Spezialitäten führt er diese Auseinandersetzung fort – nun zugespitzt durch den Krieg in der Ukraine und die Sprachkonflikte innerhalb der eigenen Familie.