Am 21. Juli 1893 wird Rudolf Ditzen in Greifswald geboren. Die familiäre Umgebung ist bürgerlich, juristisch geprägt, preußisch korrekt. Die wilhelminische Gesellschaft verlangt Anpassung, Disziplin und Haltung – Eigenschaften, die dem Jungen nur äußerlich gelingen. Intern wächst ein Bruch. Ditzen ist empfindlich, konfliktscheu, labil. Mit 18 verabredet er sich mit einem Schulfreund zu einem inszenierten Duell. Der Freund stirbt, Ditzen überlebt. Es folgen psychiatrische Aufenthalte und eine soziale Abstempelung, die nie ganz verschwindet.
1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst, wird jedoch als „dauernd untauglich“ abgewiesen. Kein Heldentum, kein Weg an die Front – stattdessen Krankheit, Isolation und die Ahnung, dass sein Platz außerhalb der geordneten Gesellschaft liegen wird.
Früher Text, später Name
1920 erscheint sein erster Roman Der junge Goedeschal, eine Studie über pubertäre Kränkungen und familiäre Sprachlosigkeit. Ditzen veröffentlicht noch unter seinem echten Namen. Erst als er sich literarisch zu lösen beginnt, wählt er das Pseudonym Hans Fallada – halb Märchen, halb Mahnung: der Fallende, der Überlebende. Es ist ein Rollenwechsel, kein Neuanfang.
Durchbruch mit Rückendeckung
Der entscheidende Impuls kommt 1931: Der Rowohlt Verlag veröffentlicht Bauern, Bonzen und Bomben, einen Roman über politische Korruption und soziale Spannungen in der Provinz. Der Ton ist sachlich, der Blick präzise, der Stil orientiert sich an der Neuen Sachlichkeit: keine Pose, keine Ideologie. Fallada erzählt, was ist – nicht, was sein soll.
Der Verlag, allen voran Ernst Rowohlt, steht hinter ihm. Diese Verlegerbindung wird zum Rückgrat seiner Laufbahn. Rowohlt sichert nicht nur Veröffentlichungen, sondern vermittelt Arbeitsaufträge, organisiert Vorabdrucke, stabilisiert einen Autor, der sich selbst nicht hält.
1932 folgt mit Kleiner Mann – was nun? der internationale Durchbruch. Die Geschichte eines Paares, das in der Wirtschaftskrise zu scheitern droht, wird ein Bestseller. Falladas Blick auf den „kleinen Mann“ ist nüchtern, unpathetisch, aber durchweg empathisch.
Familie, Land, Rückzug
Privat heiratet Fallada 1929 Anna Margarete Issel, genannt Suse. Sie ist pragmatisch, warmherzig, keine Literatin. Mit ihr und dem gemeinsamen Sohn zieht er nach Carwitz in Mecklenburg. Auf dem abgelegenen Landgut lebt er, schreibt, versucht einen geregelten Alltag. Diese Jahre gelten als seine produktivste Phase. Bücher entstehen, Kinderbücher, Geschichten, Briefe. Suse hält vieles zusammen, was andernfalls auseinanderfiele.
Doch die psychischen Schwankungen bleiben. Morphium und Alkohol kehren zurück. Fallada pendelt zwischen Kreativität und Kontrollverlust.
Anpassung ohne Bekenntnis
1933 kommt das NS-Regime an die Macht. Fallada bleibt. Widerstand liegt ihm nicht, klare Opposition überfordert ihn. Er lehnt Propagandaprojekte ab, schreibt aber weiter, arrangiert sich. Romane wie Wolf unter Wölfen (1937) spielen in der Vergangenheit und lassen Raum für Deutung. Fallada bleibt lesbar – und das ist schon eine Form von Eigensinn.
Ernst Rowohlt, später auch andere Weggefährten, sichern ihm weiterhin Veröffentlichung, Verlagsbetreuung und Schutzraum. Diese Bindung an konkrete Personen – nicht an Systeme – ist typisch für Fallada. Er ist kein Gesinnungsliterat, sondern ein Autor, der immer einen Menschen im Verlag braucht, der ihn ernst nimmt.
Krieg, Rückfall, Kontrollverlust
Falladas Gesundheit verschlechtert sich. 1944 gerät er nach einem häuslichen Streit erneut in Haft. Im Gefängnis schreibt er Der Trinker, ein brutales Selbstporträt eines Mannes, der seine Kontrolle vollständig verloren hat. Kein Erklärungsversuch, keine Entschuldigung – einfach das, was ist.
1945 erlebt er den Einmarsch der Roten Armee. Die Monate des Umbruchs verarbeitet er im Roman Der Alpdruck – leise, bedrückend, ohne pathetischen Schlussakkord. Die Wirklichkeit ist chaotisch genug.
Letzter Text, letzter Stoff, letzter Anlauf
1946 erhält Fallada über Kontakte in die Sowjetische Besatzungszone die Möglichkeit, wieder zu veröffentlichen. Der Aufbau-Verlag unterstützt ihn, wie zuvor Rowohlt. Persönliche Kontakte, keine Parteibindung. Innerhalb weniger Wochen schreibt er Jeder stirbt für sich allein, basierend auf einer authentischen Gestapo-Akte über das Ehepaar Otto und Elise Hampel.
Diese Akte hatte Johannes R. Becher übergeben – Lyriker, Kommunist, Förderer der neuen Kulturpolitik, aber auch persönlicher Unterstützer Falladas. Becher war es auch, bei dem sich Falladas Frau verschuldete, um Morphium zu besorgen. Die Abhängigkeit war ein ständiger Begleiter, verschärft durch das Chaos der Nachkriegszeit. Auch Gottfried Benn, Arzt und Dichter, wurde um Hilfe gebeten. In diesem Gemenge aus körperlicher Not, politischer Unruhe und literarischem Drang schrieb Fallada seinen letzten Roman – einen Bericht über den stillen Widerstand kleiner Leute gegen ein übermächtiges System. Kein Pathos, keine Heldenpose. Nur Alltag, Gefahr und der Versuch, nicht zu schweigen.
Am 5. Februar 1947 stirbt Hans Fallada in Berlin. Psychisch erschöpft, körperlich ruiniert, ökonomisch ausgelaugt. Zurück bleibt ein Werk, das weniger über ihn spricht als über die Welt, durch die er sich hindurchgeschrieben hat.
„O du Falada, da du hangest...“
Fallada war vieles – aber kein Vordenker, kein Lautsprecher, kein Überzeugungstäter. Theorie war ihm fremd, Haltung dagegen nicht. Er stand nicht auf Barrikaden, aber er schrieb gegen das Verstummen. Nicht laut, nicht lehrhaft – sondern mit dem Blick für das, was sich nicht schreit, sondern nur erzählt. Seine Figuren taumeln durch ihre Zeit, mal aufrecht, mal gebückt, selten ganz gebrochen.
Fallada lesen heißt auch heute noch: sich dem Makel nicht entziehen. Es heißt, die Niederungen ernst zu nehmen – mit ihrer Schäbigkeit, ihrem Trotz, ihrer Klugheit. Es heißt, Mut dort zu erkennen, wo kein Manifest geschrieben wird, sondern ein Zettel im Treppenhaus liegt. Es heißt, sich der Weisheit der Erschöpfung zu stellen, der Banalität der Grausamkeit, der Beharrlichkeit des Herzens.
„O du Falada, da du hangest
O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät ihr zerspringen.“
So spricht das Märchen – und so spricht, in anderer Tonlage, aber mit verwandtem Wissen, auch Falladas Werk. Von dem, was verraten wurde, und was sich dennoch nicht auslöschen lässt. Von denen, die untergehen, aber nicht verstummen. Von einer Würde, die kein Titel verleiht.
Da ist er: der große Dichter der Deutschen. Leise, genau, unbequem. Und bis heute unverzichtbar.
Infobox: Hans Fallada – Wichtige Werke (Auswahl)
Der junge Goedeschal (1920) – Früher Pubertätsroman über familiäre Sprachlosigkeit und Selbstverlust.
Bauern, Bonzen und Bomben (1931) – Landpolitischer Roman mit dokumentarischem Anspruch.
Kleiner Mann – was nun? (1932) – Falladas bekanntester Roman: Weltwirtschaftskrise, Prekariat, Überlebenswille.
Wolf unter Wölfen (1937) – Großformatiger Gesellschaftsroman über die Inflationsjahre.
Der Trinker (1944/1950) – Autofiktionaler Bericht aus dem Innenleben eines Süchtigen.
Der Alpdruck (1947) – Roman über das Kriegsende und die neue Ordnung.
Jeder stirbt für sich allein (1947) – Spätwerk über stillen Widerstand unter NS-Herrschaft.
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