Man muss sich das vergegenwärtigen: Raimund Pretzel war 25 Jahre alt, als er diesen Roman schrieb. Ein Jurist am Anfang seiner Laufbahn, frisch verliebt, desillusioniert und politisch hellhörig – aber noch kein Historiker, noch kein Exilant, noch kein „Sebastian Haffner“. Dieser Roman, Abschied, geschrieben im Oktober und November 1932, ist keine spätere Verarbeitung, kein abgeklärter Rückblick. Er ist ein Text aus der Mitte des Sturms – notiert, bevor das, was wir heute Geschichte nennen, Wirklichkeit wurde.
Jetzt, fast ein Jahrhundert später, erscheint er erstmals. Und liest sich, als hätte man ihn eben erst fertiggestellt. Vielleicht, weil er nie wirklich abgeschlossen war. Vielleicht, weil auch wir ihn noch nicht ganz verstanden haben.
Eine Liebe, die nichts mehr aufhalten kann
Der Roman erzählt von Raimund, einem jungen Berliner Juristen, der ein paar Tage in Paris verbringt, um eine alte Liebe wiederzusehen: Teddy, eine kluge, freie, entschiedene junge Frau, die Deutschland bereits verlassen hat. Zwischen Métro und Montmartre, zwischen halben Versöhnungen und unausgesprochenen Abschieden, entfaltet sich eine Geschichte, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist – weil sie zu spät kommt, weil das Leben dazwischengegangen ist, weil die Welt schon eine andere geworden ist.
Doch das Entscheidende ist nicht der Plot – es ist der Ton, die Zeit, der Blick. Es ist das Alter des Erzählers, das Alter des Autors: 25. Zu jung für Altersweisheit, zu alt für jugendliche Unschuld. Genau dazwischen – und genau dort, wo das 20. Jahrhundert seine Unschuld verlor.
Paris als Möglichkeitsraum – Berlin als Drohung
Teddy will nicht zurück nach Berlin, und sie sagt auch warum – oder eben gerade nicht. Ihre jüdische Herkunft, ihre Intelligenz, ihre Autonomie machen Paris für sie nicht nur zu einer Verheißung, sondern zu einem Schutzraum. Für Raimund ist Paris Projektionsfläche: auf das freie Leben, auf eine andere Version seiner selbst. Doch je länger er bleibt, desto deutlicher wird: Er gehört hier nicht hin. Und was ihn in Deutschland erwartet, ist mehr als nur eine Karriere in der Justiz.
Haffner – oder besser: Pretzel – gelingt hier etwas Seltenes. Er beschreibt, was ist, ohne zu wissen, was wird. Und genau deshalb ist dieser Text so kostbar. Weil er nicht besserwisserisch warnt, sondern tastend beobachtet. Weil er ein Dokument der Ungewissheit ist. Und gerade deshalb so hellsichtig.
Sprache zwischen Wehmut und Witz
Stilistisch ist Abschied ein Solitär. Die Nähe zur Neuen Sachlichkeit ist da – im lakonischen Duktus, in der klaren Syntax, in der genauen Beobachtung. Aber die Sprache ist zu nervös, zu empfindlich, zu subjektiv, um sich in diese Schublade einsortieren zu lassen. Raimunds Gedanken springen, seine Sätze taumeln, seine Gefühle schwanken zwischen Pathos und Pose.
Es gibt Passagen, da klingt er wie ein verletzlicher Kästner, da huscht Tucholsky durch die Seiten, da blitzt eine Prise Stefan Zweig auf. Aber alles bleibt durchwirkt von dieser spezifischen Unsicherheit eines jungen Mannes, der zu viel denkt und zu wenig weiß – nicht weil er dumm wäre, sondern weil die Welt noch offen ist, aber schon dabei, sich zu verschließen.
Ein Ich zwischen Rollen, ein Roman zwischen Epochen
Raimund ist kein Held. Er ist ein Repräsentant jenes aufgeklärten, urbanen, liberalen Bürgertums, das nicht spießig sein will – und es gerade deshalb manchmal ist. Seine Haltung schwankt, sein moralischer Kompass zittert, sein Blick auf Teddy changiert zwischen Verehrung und Besitzanspruch. Es ist ein unvollkommener Blick – und gerade deshalb so wahr.
Haffner beschreibt keine reife Figur, sondern einen Mann in der Zwischenzeit: zwischen Jugend und Verantwortung, zwischen Gefühl und Analyse, zwischen Weimar und etwas, das noch keinen Namen hatte. Diese Schwebe durchzieht das ganze Buch – es ist sein innerer Rhythmus, sein thematischer Kern.
Abschied von einer Sprache, von einer Zeit
1932 geschrieben – das ist mehr als ein Datum. Es ist eine Schwelle. Der Roman atmet noch den Ton der 1920er: schnell, schnippisch, melancholisch. Doch schon in der nächsten Dekade wird diese Art zu schreiben, zu empfinden, zu leben – verschwunden sein. Ausradiert von Ideologie, Lärm und Gewalt. Der leise Humor, die kleinen Szenen, die fast französische Eleganz des Erzählens – all das ist mit diesem Roman aufbewahrt worden. Und kommt jetzt wieder ans Licht.
Ein Zeitdokument in Echtzeit
Abschied ist kein großer Roman im emphatischen Sinn – aber ein kostbarer. Kein Werk der Reife, sondern der Durchlässigkeit. Es ist ein 25-jähriger Mann, der uns hier die Welt zeigt – mit offenem Herzen, mit scharfen Augen, mit fliegenden Gedanken. Und gerade deshalb gehört dieser Text zu den wenigen, die nicht altern, sondern wachsen, je weiter man sich von ihrem Entstehungsjahr entfernt.
Was man also mit diesem Buch bekommt, ist mehr als eine verlorene Liebe in Paris. Es ist die Ahnung eines Lebens, das nicht mehr gelebt werden konnte. Die Stimme eines Mannes, der sich später Sebastian Haffner nennen wird – und hier noch einfach nur sehen will, was ist.
Der Autor: Sebastian Haffner
Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war Jurist, Journalist und einer der klarsichtigsten Chronisten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. Als junger Mann studierte er Rechtswissenschaften – eine Laufbahn, die er mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten abbrach, weil sie sich mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren ließ. 1938 emigrierte er nach England, nahm später den Namen Haffner an und wurde dort zunächst als Kommentator für britische Medien tätig.
Sein literarisches und publizistisches Werk erlangte vor allem nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1954 große Aufmerksamkeit. Mit Schriften wie Anmerkungen zu Hitler oder der postum erschienenen Geschichte eines Deutschen prägte er den politischen Diskurs der Bonner Republik – als kluger, nie populistischer Analytiker deutscher Irrtümer. Abschied, sein früher Roman, geschrieben mit 25 Jahren, zeigt ihn noch in der Phase tastender Selbstvergewisserung – literarisch, biografisch, historisch. Haffner starb 1999 in Berlin.
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