SRF-Bestenliste Juni 2025: Literatur unter Strom

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Immer wieder wird sie zur literarischen Wetterkarte der Gegenwart: die SRF-Bestenliste, herausgegeben von Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Was trocken klingt, ist in der Praxis ein erstaunlich lebendiger Indikator für literarische Bewegung – und gelegentlich auch ein Stimmungsbarometer für das, was Leserinnen, Buchhändler und Kritiker umtreibt. Eine Jury aus rund 50 Fachleuten – Kritiker, Bibliothekarinnen, Buchhändler, Wissenschaftlerinnen, Vermittler – wählt Monat für Monat aus, was sprachlich überzeugt, formal überrascht oder gesellschaftlich nicht weggesehen werden kann.

Ein literarischer Drahtseilakt Kein & Aber Verlag

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Bis zu vier Titel darf jedes Mitglied nominieren, Punkte werden im System 7/5/3/1 vergeben, die Gesamtsumme entscheidet die Reihung. Bücher, die drei Mal auf der Liste standen, scheiden automatisch aus. Im Juni 2025 haben 33 Jurymitglieder insgesamt 499 Punkte verteilt – wobei sich fünf Bücher mit klarer Themen- wie Stilvielfalt an die Spitze gesetzt haben.

Platz 1: Nora Osagiobare – Daily Soap (36 Punkte)

(Kein & Aber Verlag)
Ein Roman, der sich nicht zwischen Unterhaltungsformat und Literatur entscheiden will – und genau daraus seine Stärke zieht. Daily Soap nimmt die Ästhetik der Fernsehserie beim Wort, überführt sie in Buchform und dekonstruiert dabei nebenbei die Schweizer Wohlfühlfassade. Hauptfigur Toni lebt in einer Welt aus Alltagsrassismus, familiärem Chaos und der absurden Logik von Scripted Reality. Osagiobare jongliert mit Sprachregistern, Ironie und Tempo – und bringt dabei mit leichter Hand schweres zum Vorschein. Ein literarischer Drahtseilakt, der auch nach dem letzten Satz nicht abstürzt.

Platz 2: Fabio Andina – Sechzehn Monate (28 Punkte)

(Rotpunkt Verlag, aus dem Italienischen von Karin Diemerling)
Andinas Roman ist das Gegenteil der schnellen Pointe. In einer klaren, fast trockenen Sprache erzählt er von der Deportation seines Großvaters Giuseppe, der 1944 Juden und Partisanen bei der Flucht über die Grenze half – und dafür im KZ Mauthausen landete. Kein dramatisierender Gestus, keine stilistische Überwältigung, nur das Nötige. Gerade darin liegt die Kraft dieses Textes: Er erlaubt dem Schrecken, sich aus dem Schweigen zu entfalten. Ein Buch, das nichts versöhnt, aber viel erinnert – und dabei auf jedes Pathos verzichtet.

Platz 3: Kristine Bilkau – Halbinsel (24 Punkte)

(Luchterhand Verlag)
Manche Romane verhalten sich wie Gezeiten: leise, stetig, scheinbar unspektakulär – und doch formend. Bilkaus Halbinsel erzählt vom Leben einer Mutter und ihrer Tochter auf einer norddeutschen Halbinsel, zwischen Erinnerungsarbeit und Gegenwartsverweigerung. Der frühe Tod des Vaters wirft lange Schatten, das Schweigen in der Familie hallt bis in die Landschaft hinein. Bilkau bleibt ihrer reduzierten Sprache treu, baut innere Spannung nicht durch Ereignisse, sondern durch genau gesetzte Leerstellen auf. Ein Roman, der nicht ruft, sondern bleibt.

Platz 4: Ocean Vuong – Der Kaiser der Freude (21 Punkte)

(Hanser Verlag, aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl)
Ocean Vuong schreibt, als würde er einen zerbrechlichen Gegenstand auf Watte legen. Sein zweiter Roman begleitet Hai, einen jungen Vietnamesisch-Amerikaner, dessen Leben zwischen Pflegearbeit, Trauer und Depression zersplittert – bis ihm eine Überlebende des Holocaust begegnet. Vuong verwebt lyrische Passagen mit roher Realität, wagt Brüche im Ton und setzt auf emotionale Genauigkeit. Die Nähe zur Poesie ist nicht Effekt, sondern Haltung. Das ist manchmal pathetisch, oft eindrucksvoll – und nie gleichgültig.

Platz 5: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count (18 Punkte)

(S. Fischer Verlag, aus dem Englischen von Asal Dardan und Jan Schönherr)
Dass Adichie auch dann Eindruck macht, wenn sie sich nicht neu erfindet, ist ein Zeichen ihrer erzählerischen Reife. Dream Count versammelt vier Geschichten nigerianischer Frauen zwischen Migration, Mutterschaft, Verlust und Selbstbehauptung. Die Themen sind vertraut, die Perspektiven präzise. Adichie hält das Gleichgewicht zwischen politischem Anspruch und poetischer Form mit der Selbstverständlichkeit einer Autorin, die weiß, was sie tut – und warum.

Ein literarisches Panorama ohne Dauerbeschallung

Die SRF-Bestenliste im Juni 2025 ist eine gelungene Mischung aus Debüt, Erinnerung, innerem Monolog und gesellschaftlicher Skizze. Was sie verbindet: der Mut zur Form, die Lust an sprachlicher Eigenständigkeit – und ein deutlicher Abstand zur literarischen Konfektionsware. Kein Buch, das schreit. Aber viele, die nachhallen.


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