Tine Høegs Hunger beginnt mit einem Körpergefühl. Ein Ziehen, ein Prickeln, ein Verdacht. Die Erzählerin, Mia, ist 35, Autorin in Kopenhagen, in einer festen Beziehung mit Emil – und in einer existenziellen Warteschleife. Jeden Monat neu die Hoffnung, die Enttäuschung, das Wieder-Anfangen. Høeg erzählt in tagebuchartigen Fragmenten von einem Jahr, das sich um einen einzigen Wunsch dreht: schwanger werden.
Was zunächst wie ein intimes Protokoll wirkt, entpuppt sich bald als vielschichtige Auseinandersetzung mit den Zumutungen eines unerfüllten Kinderwunsches, mit medizinischer Bürokratie, emotionalem Rückzug und den Erschütterungen einer Liebe, die unter dem Druck fast zusammenbricht.
Sprache auf Entzug
Der Stil ist radikal reduziert. Kurze Sätze, Zeilenumbrüche mitten im Wort, kein erzählender Überbau, keine Erklärung. Høeg schreibt nicht über Gefühle – sie lässt sie entstehen, tastend, sprunghaft, widersprüchlich. Ihre Sprache verzichtet auf rhetorischen Schmuck und trifft damit genau: mitten ins emotionale Zentrum. Was sich entfaltet, ist ein Sprechen am Rand des Verstummens, ein inneres Ringen, das kaum Luft zum Atmen lässt.
Es ist eine Sprache der Obsession – nicht analytisch, sondern performativ. Sie vollzieht, was sie beschreibt: den Kreislauf aus Hoffnung, Enttäuschung und weiterem Funktionieren. Høeg gelingt es, psychische Belastung nicht nur zu benennen, sondern strukturell in Text zu übersetzen.
Zwischen Sofa und Selbstverlust
Die Beziehung zwischen Mia und Emil steht im Zentrum des Romans – nicht als romantisches Ideal, sondern als fragile Realität. Emil bringt zwei Kinder mit in die Beziehung, Mia wird zur „Bonusmama“, zur strahlenden Außenseiterin. Sie bemüht sich, fügt sich ein, funktioniert. Doch je stärker der Kinderwunsch wird, desto deutlicher werden auch die Risse. Das Sofa wird zu klein, die Worte versiegen, Nähe kippt in Distanz.
Høeg beschreibt diese Erosion nicht als Drama, sondern als ständige Aushandlung – im Alltäglichen, im Organisatorischen, im Schweigen. Es gibt keine lauten Szenen, nur kleine Brüche, die sich summieren. Der Körper als Austragungsort, das Begehren als Taktgeber.
Kulturgeschichte im Hintergrund
Inmitten der intimen Notate öffnet Høeg den Blick immer wieder nach außen. Ein Museumsbesuch führt zu Überlegungen über die Figur der bösen Stiefmutter, Märchendeutungen fließen ein, ebenso Parallelen zwischen Schwangerschafts- und Corona-Test. Diese Einsprengsel erweitern den Text – ohne zu dozieren. Sie setzen die individuelle Erfahrung in einen größeren Zusammenhang, zeigen, wie tief kulturelle Narrative in das Selbstbild eingreifen.
So wird Hunger auch zu einem Text über gesellschaftliche Erwartungshaltungen: an Weiblichkeit, an Familie, an Funktionalität.
Vom Licht, das nicht wärmt
Trotz der Schwere ist Hunger kein hoffnungsloser Roman. Es gibt Momente von Nähe, Sex in einem Geräteschuppen, ein gemeinsames Lachen mit wild gepflückten Tulpen. Doch sie wirken wie Gegenlichter, wie kurze Aufhellungen in einem insgesamt düsteren Grundton. Diese Ambivalenz macht den Text so glaubwürdig: Er romantisiert nichts, aber er verzichtet auch auf Pathos.
Høeg bleibt stets bei ihrer Figur – genau, aber nie ausstellend. Sie zeigt eine Frau, die sich nicht verlieren will und sich doch Stück für Stück verliert. Die liebt, kämpft, zweifelt. Und die immer weitermacht, weil Aufgeben keine Option ist.
Ein Roman der trifft
Tine Høeg – Hunger ist kein Roman über das Mutterwerden, sondern über das Nicht-Muttersein. Über das Warten, das Kämpfen, das Sprechen, wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Høeg gelingt ein seltenes Kunststück: Sie schreibt über etwas zutiefst Privates – und trifft damit einen kollektiven Nerv. Ihr Text ist karg, aber nicht kalt. Er brennt leise.
Wer sich auf diese Sprache einlässt, wird nicht getröstet, aber verstanden. Und vielleicht ist das in Zeiten automatisierter Erzählungen das Eindringlichste, was Literatur leisten kann.
Verfilmung mit Netflix
Die emotionale Wucht des Romans fand auch filmisch Beachtung. Unter dem Titel Eine Kopenhagener Liebesgeschichtewurde der Stoff von Netflix adaptiert und ist seit Ende Februar abrufbar. Regie führten Ditte Hansen und Louise Mieritz, in den Hauptrollen überzeugen Rosalinde Mynster und Joachim Fjelstrup. Der Film erzählt die Geschichte mit großer Zurückhaltung, visueller Klarheit und leisem Ton – und bleibt dabei spürbar hinter der Radikalität der literarischen Vorlage zurück. Wer die sprachliche Dringlichkeit Høegs erleben will, sollte unbedingt zuerst zum Buch greifen.
Die Autorin: Tine Høeg
Tine Høeg, geboren 1985, studierte Dänisch und Philosophie und lebt in Kopenhagen. Bereits ihr Debütroman Neue Reisende wurde 2017 mit dem Debütantenpreis der Buchmesse Bogforum in Kopenhagen ausgezeichnet. 2020 erschien die deutsche Übersetzung bei Droschl, gefolgt von einer Uraufführung im Königlichen Dänischen Theater. Auch ihr zweiter Roman Tour de Chambre (2020) war ein Bestseller und wurde 2021 als musikalisch-literarisches Romankonzert aufgeführt – eine Zusammenarbeit mit dem Musiker Simon Brinck. Für ihr Werk erhielt Høeg 2020 den Edvard P-Preis.
Mit Hunger legt sie nun ihren dritten Roman vor – konsequent weitergedacht im Stil, schärfer im Ton, unerbittlicher im Thema.
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