Mit Trommelwirbel und Textgespür: Soeben wurden auf der Leipziger Buchmesse 2025 vor einem erwartungsvoll vibrierenden Publikum in der Glashalle die diesjährigen Preise verliehen. Insgesamt 506 Titel aus 166 Verlagen hatten es auf die Longlist geschafft – 15 Bücher schafften es unter die nominierten- am Ende überzeugten drei Werke, die nicht nur literarisch etwas wagen, sondern auch politisch und historisch Wucht entfalten.
Kristine Bilkau: Die Kunst der leisen Konfrontation
In der Kategorie Belletristik ging die Auszeichnung an Kristine Bilkau für ihren Roman Halbinsel (Luchterhand) – ein Buch, das sich zunächst harmlos gibt, um dann Schicht für Schicht ein beunruhigend klares Bild zu entwerfen. Eine Mutter, eine erwachsene Tochter, eine fragile Beziehung, die irgendwo zwischen Gegenwart, Erinnerung und Erwartung oszilliert. Was wie eine Rückzugsgeschichte in eine norddeutsche Landschaft beginnt, wird zu einer Erkundung emotionaler Altlasten – ganz ohne Pathos, aber mit viel psychologischer Tiefenschärfe.
Die Jury lobte den Roman als „sensibel gebaut“ und als eine Auseinandersetzung mit dem „Geschäft mit dem Klima-Gewissen“ – eine Formulierung, die dem Text gerecht wird, denn Bilkau ist keine, die plakativen Aktivismus betreibt. Stattdessen lotet sie aus, wie politisches Denken in private Biografien sickert – und umgekehrt.
Bilkau, Jahrgang 1974, hat mit Die Glücklichen und zuletzt mit Nebenan bereits ihre Gabe für präzise Alltagsbeobachtung und atmosphärische Dichte unter Beweis gestellt. Dass sie mit Halbinsel nun diesen Preis erhält, wirkt fast überfällig.
Irina Rastorgueva: Klemperer für das postfaktische Zeitalter
Weniger zurückgenommen, dafür umso analytischer präsentiert sich die Preisträgerin in der Kategorie Sachbuch/Essayistik: Irina Rastorgueva erhält die Auszeichnung für Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung (Matthes & Seitz Berlin). Bereits der Titel irritiert – und trifft. Rastorgueva legt eine sprachkritische Anatomie der russischen Gegenwart vor, die irgendwo zwischen Linguistik, Zeitdiagnose und bitterem Witz changiert.
„Der Comic in der Mitte“, so die Jury, „zeugt von bitterem Humor“. Was folgt, ist ein Text, der keine Schonung kennt: Weder für das staatsgelenkte Sprechen Putins, noch für das westliche Staunen über dessen Wirkmacht. Rastorgueva seziert Begriffe wie „Sonderoperation“ oder „Entnazifizierung“ mit einer Akribie, die an Victor Klemperers LTI erinnert – aber ohne sich in historische Parallelismen zu verlieren.
Geboren 1983 in Juschno-Sachalinsk, hat Rastorgueva als Kulturjournalistin, Dramaturgin und Herausgeberin gewirkt. Mit Pop-up-Propaganda gelingt ihr das Kunststück, das Unheimliche der Sprache sichtbar zu machen, ohne in Alarmismus zu verfallen – ein notwendiger Text, der sich gegen die Abstumpfung stellt.
Thomas Weiler: Zeugenschaft übersetzt
Die Kategorie Übersetzung geht in diesem Jahr an Thomas Weiler für die Übertragung von Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten (Aufbau), herausgegeben von Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik. Der Titel verspricht nichts Geringeres als die Öffnung eines Archivs des Entsetzens – und hält genau das.
Weiler gelingt es, die Stimme der Überlebenden nicht zu glätten. Seine Übersetzung ist nah am Mündlichen, tastet sich durch Sätze, die manchmal selbst an der Last des Erinnerten zu zerbrechen drohen. Die Jury betonte die „brennende Wahrheit dieser Berichte“ – und genau darin liegt die Qualität dieser Arbeit: Es geht nicht um sprachliche Eleganz, sondern um das Aushalten der dokumentierten Wirklichkeit.
Thomas Weiler, geboren 1978 im Schwarzwald, gehört zu den profiliertesten Übersetzern aus dem Belarussischen, Polnischen und Russischen. Dass seine Arbeit in diesem Jahr gewürdigt wird, ist auch ein Signal dafür, wie notwendig Übersetzung als kulturelle Vermittlung gerade in Zeiten multipler Kriege und Erinnerungskonflikte ist.
Kein Preis für die Mitte, sondern für die Ränder des Sagbaren
Was diese Preisvergabe auszeichnet, ist der Mut zur Zumutung. Keine gefälligen Texte, kein Kuschelkurs mit dem Publikum. Stattdessen drei Stimmen, die den Leser fordern – intellektuell, emotional, politisch. Es ist ein Statement gegen das literarische Mittelmaß und für eine Literatur, die sich nicht scheut, anzuecken, zu erschüttern, unbequeme Fragen zu stellen.
Ob in Bilkaus filigraner Familienaufstellung, in Rastorguevas Sprachkritik oder in Weilers dokumentarischer Übersetzungsarbeit – stets geht es um das, was sich der glatten Erzählung entzieht. Um das, was bleibt, wenn das Offensichtliche zerbröckelt. Ein starkes Jahr für die Leipziger Buchmesse.
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