Christian Krachts neuer Roman Air erscheint am 13. März 2025 im cund wurde bereits für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 nominiert.
Eine Reise jenseits der bekannten Welt
Der Roman entführt seinen Protagonisten Paul von den schottischen Orkneys in eine arktische Anderwelt. Paul, ein Schweizer Inneneinrichter, dessen Hang zu exquisiten Dingen nur noch von seiner latenten Existenzmüdigkeit übertroffen wird, nimmt einen Auftrag an, der ihn nach Norwegen führt. Dort kommt es zu einem elektromagnetischen Zwischenfall, der ihn in eine fremde, eisige Welt versetzt. An seiner Seite taucht das neunjährige Mädchen Ildr auf, mit dem er vor den Soldaten eines tyrannischen Herzogs flieht. Eine karge Landschaft, eine archaische Ordnung, ein verzweifeltes Entkommen. Die Zutaten scheinen klar, doch wer Kracht kennt, weiß: Nichts ist einfach nur das, was es zu sein vorgibt.
Zwischen Abenteuer und kühler Distanz
Das Setting lässt sich als Abenteuerroman lesen, aber es ist ein Abenteuer, das nicht mitreißen will, sondern durch Distanz besticht. Die Kälte dieser anderen Welt ist nicht nur physisch, sondern auch erzählerisch spürbar. Kracht bleibt seinem Stil treu, löst die klassische Heldenreise in ein Spiel aus Anspielungen, Fragmenten und ironischen Brechungen auf. Der Verlag spricht von „einer radikalen Romantik“, doch wer sich erhofft, in mythische Tiefen abzutauchen, wird merken, dass diese Romantik eher eine Konstruktion als eine Sehnsucht ist. Das Spiel mit Erwartung und Enttäuschung ist Krachts eigentliche Konstante.
Eine Ästhetik des Überflusses und der Leere
Air scheint sich in das Konstruktionsprinzip seiner früheren Romane einzureihen: Eine Ästhetik des kalkulierten Überflusses, in der sich jedes Detail bewusst anfühlt und dennoch eine gewisse Leere hinterlässt. Wie in Imperium oder Die Toten verwischt Kracht die Grenzen zwischen Geschichte, Fiktion und Reflexion. Paul, ein Protagonist, der sich zwischen den Welten bewegt, bleibt dabei fast schattenhaft. Er ist mehr eine Projektionsfläche als eine klassische Figur mit nachvollziehbaren Motiven. Seine Existenz ist ein Abbild der krachtschen Protagonisten: Getrieben, distanziert, mit einem Gefühl der inneren Entkopplung ausgestattet.
Fragen, auf die es keine Antworten gibt
Gleichzeitig wirft der Roman Fragen auf: Ist das norwegische Datenzentrum, das Pauls Reise ins Jenseitige einleitet, ein Symbol für unsere technisierte Welt, die in eine Kälte ohne Bedeutung driftet? Steht die arktische Anderwelt für einen mythischen Sehnsuchtsort oder eine dystopische Sackgasse? Wie in seinen früheren Büchern bleibt Kracht jede Antwort schuldig. Die Anspielungen sind zahlreich, aber eine klare Lesart bleibt unauffindbar. Man könnte es als postmoderne Romantik deuten, als Versuch, das Erhabene in einer Welt zu verorten, die sich längst von solchen Konzepten verabschiedet hat.
Eine Sprache, die formt, aber nicht berührt
Krachts Sprache ist durch und durch kalkuliert. Jedes Wort sitzt, jedes Detail scheint bewusst gesetzt, doch genau das erzeugt eine merkwürdige Künstlichkeit. Wo andere Autoren durch Sprachbilder Stimmungen entstehen lassen, entwirft Kracht eine Art Spiegelkabinett aus Bedeutungen, die sich sofort selbst hinterfragen. Seine Sätze sind oft knapp, fast lakonisch, aber dabei mit einer Präzision geschliffen, die ihnen eine formale Eleganz verleiht.
Andeutungen ohne klare Richtung
Er ist ein Meister der Andeutung. Nichts wird direkt gesagt, vieles bleibt in der Schwebe. Das erzeugt einen besonderen Rhythmus: Einerseits zwingt es den Leser zur genauen Lektüre, andererseits kann es ermüdend wirken, weil das Gefühl bleibt, dass jede Spur absichtlich ins Leere führt. Es ist Literatur, die bewusst mit der Rolle des Lesers spielt – als müsste man sich die Bedeutung selbst erarbeiten, nur um dann festzustellen, dass der Text sich längst von ihr entfernt hat.
Ein kuratiertes Leseerlebnis
Was Kracht auszeichnet, ist die Art, wie er literarische Versatzstücke, historische Ereignisse und popkulturelle Referenzen ineinander verwebt. Man spürt, dass seine Texte nicht nur geschrieben, sondern regelrecht kuratiert sind. Jeder Satz ist ein Statement, jede Szene ein durchkomponiertes Tableau. Das kann faszinieren, aber auch herausfordern. Wer sich auf die Lektüre von Air einlässt, sollte bereit sein, sich in einem Text zu verlieren, der keine eindeutigen Antworten liefert.
Zwischen Ironie und Distanz
Dass Kracht sich sprachlich oft an einem Punkt zwischen Ironie und Ernst bewegt, macht seine Texte nicht nur reizvoll, sondern auch schwer zu greifen. Die Distanz, die er zwischen sich und seine Figuren legt, überträgt sich auch auf den Leser. Emotionale Nähe bleibt eine Illusion, stattdessen dominiert eine Ästhetik der Entfremdung. Air ist keine Literatur, die mitreißen will, sondern eine, die reflektiert, kommentiert und dekonstruiert. Ob das als literarischer Genuss oder als anstrengendes Rätselspiel empfunden wird, hängt von der individuellen Leseperspektive ab.
Über den Autor
Christian Kracht wurde 1966 in der Schweiz geboren und zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Debütroman Faserland (1995) gilt als eines der zentralen Werke der Popliteratur und brachte ihm früh eine Mischung aus Anerkennung und Kontroverse ein. Mit seinen späteren Werken entfernte er sich zunehmend von der autobiografisch angehauchten Erzählweise seines Erstlings und entwickelte eine eigene, stark stilisierte literarische Handschrift.
Seine Romane, darunter 1979 (2001), Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), Imperium (2012), Die Toten (2016) und Eurotrash (2021), sind geprägt von intertextuellen Bezügen, historischer Verzerrung und einer Mischung aus Ironie und Pathos. Immer wieder spielt er mit Fiktion und Realität, stellt große Erzählungen in Frage und erschafft dabei literarische Welten, die sich jeder eindeutigen Interpretation entziehen.
Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt, mehrfach ausgezeichnet und literaturwissenschaftlich intensiv diskutiert. Trotz seiner Bekanntheit bleibt Kracht eine zurückhaltende, fast mysteriöse Figur im Literaturbetrieb. Interviews gibt er selten, öffentliche Auftritte sind rar, und sein Verhältnis zur literarischen Kritik ist ambivalent. Seine Bücher hingegen sprechen für sich – als kunstvoll komponierte, oft rätselhafte Konstruktionen, die sich irgendwo zwischen postmoderner Reflexion und dekadentem Spiel bewegen.
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