Franz Fühmann wurde am 15. Januar 1922 in Rochlitz an der Iser (heute Rokytnice nad Jizerou, Tschechien) geboren, in eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Das Ende des Ersten Weltkriegs und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen prägten das Umfeld seiner Kindheit. Er wuchs in einem kleinbürgerlich-katholischen Elternhaus auf, das von Disziplin und religiösem Glauben bestimmt war. Seine Mutter war eine streng gläubige Katholikin, sein Vater ein Apotheker mit einer Neigung zu exzentrischen Interessen. Dieses Spannungsfeld zwischen strenger Religiosität und unkonventionellem Denken bildete den Hintergrund für Fühmanns lebenslange Auseinandersetzung mit ideologischen und moralischen Fragen.
Jugend im ideologischen Schatten des Dritten Reichs
Fühmanns Jugend fiel in die Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung. Wie viele seiner Generation wuchs er in die Strukturen des „Dritten Reiches“ hinein, dessen Ideologie den Alltag durchdrang und den Lebensweg vorzuzeichnen schien. Mit der katholischen Erziehung aus dem Elternhaus, die ihn zunächst prägte, kam er ins Jesuiteninternat Kalksburg bei Wien. Dort erlebte er die strengen und düsteren Seiten der Religion, die ihn letztlich zum Atheismus führten.
1938 trat er in die Reiter-SA ein und wurde ein begeisterter Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie. Seine jugendliche Überzeugung führte ihn in die Strukturen des NS-Staats und ließ ihn antisemitische Ansichten übernehmen, ohne jemals einem jüdischen Menschen begegnet zu sein. Diese ideologische Verblendung schilderte er später eindrucksvoll in seiner Erzählung„Das Judenauto“.
Zweiter Weltkrieg: Ein erster Bruch
1941 wurde Fühmann als Nachrichtensoldat in die Wehrmacht eingezogen. Seine Einsätze führten ihn nach Litauen, Griechenland und in die Sowjetunion. Während dieser Zeit erlebte er die Grausamkeiten des Krieges und die Ablehnung der deutschen Besatzer durch die Bevölkerung, was erste Zweifel an der nationalsozialistischen Ideologie aufkeimen ließ.
Das Kriegsende 1945 erlebte er als einen tiefen Bruch. Nach einer Verwundung kehrte er zunächst in ein Lazarett zurück, meldete sich aber noch im Mai desselben Jahres erneut zur Wehrmacht und geriet unmittelbar darauf in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dort verbrachte er mehrere Jahre, zunächst mit harter Lagerarbeit, später in den sogenannten Antifa-Schulen. Hier studierte er den Marxismus-Leninismus und ließ sich von dessen klaren Strukturen und Botschaften überzeugen. Dieser ideologische Wandel gab seinem Leben eine neue Orientierung und füllte das geistige Vakuum, das der Zusammenbruch des Nationalsozialismus hinterlassen hatte.
1949: Ein neues Leben in der DDR
Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1949 entschied sich Fühmann für ein Leben in der DDR. Er trat der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) bei, die ehemalige Nationalsozialisten und Wehrmachtsangehörige integrieren sollte. Als Funktionär der NDPD setzte er sich zunächst engagiert für den Aufbau des Sozialismus ein.
Sein erster Gedichtband „Die Nelke Nikos“ (1953) und das Poem „Die Fahrt nach Stalingrad“ spiegelten diese Phase wider. Werke wie die Novelle „Kameraden“ (1955) machten ihn jedoch auch zu einem bedeutenden literarischen Chronisten der Nachkriegszeit. In diesen frühen Werken setzte er sich kritisch mit Krieg, Schuld und Verstrickung auseinander.
Freier Schriftsteller und die Suche nach Wahrheit
1958 verließ Fühmann die NDPD und wurde freier Schriftsteller. Er zog sich oft in sein kleines Häuschen in Märkisch-Buchholz zurück, das zu seiner Schreibwerkstatt wurde. In dieser Zeit begann er, sich intensiv mit Mythologie, Sprache und der menschlichen Psyche auseinanderzusetzen.
Seine Reportage „Kabelkran und Blauer Peter“(1961), die während eines Aufenthalts auf der Rostocker Warnow-Werft entstand, dokumentiert den Alltag der Werftarbeiter und zeigte sein Bestreben, das Leben der arbeitenden Bevölkerung authentisch darzustellen. Mit dem autobiografischen Erzählband „Das Judenauto“ (1962) setzte er sich kritisch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander und analysierte die Mechanismen, die ihn und seine Generation für den Faschismus empfänglich gemacht hatten.
1968: Der Prager Frühling und die nächste Zäsur
"Ich gestehe, dass sich in jenen Tagen jählings vor mir auch ein schwarzer Weg auftat; ich wählte schließlich den des hellen Bewusstseins und fand die Kraft, mit dem weißen Magier zu brechen, dem süßen Rauschgift zerbrannter Saaten, in dessen Bann ich mich Jahr um Jahr immer mehr des Bewusstseins begeben hatte." (F. Fühmann, Der Sturz des Engels )
Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Warschauer-Pakt-Truppen 1968 markierte eine erneute ideologische Wende. Fühmann distanzierte sich zunehmend von der SED-Doktrin. Diese Enttäuschung führte zu einer literarischen Neuorientierung. Werke wie „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“ (1973) und „Vor Feuerschlünden“(1981) zeugen von seiner intensiven Auseinandersetzung mit Sprache, Mythen und den Abgründen der menschlichen Existenz.
Kafka als literarisches Vorbild
In seiner späten Schaffensphase spielte Franz Kafka eine zentrale Rolle für Fühmann. Kafkas Werke boten ihm einen Spiegel, um die Widersprüche und Absurditäten der modernen Welt zu reflektieren. Die kafkaeske Atmosphäre, geprägt von Isolation und der Ohnmacht des Individuums gegenüber autoritären Strukturen, fand ihren Ausdruck in Fühmanns Erzählungen wie „Saiäns-fiktschen“ (1981).
Kinderliteratur: Ein besonderer Teil seines Werks
Fühmann war auch ein bedeutender Autor von Kinderliteratur. Er verfasste Werke, die klassische Stoffe mit moderner Sprache und kindgerechter Erzählweise verbanden. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören:
- „Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“ (1959)
- „Das hölzerne Pferd. Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus“ (1968)
- „Das Nibelungenlied. Neu erzählt“ (1971)
- „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ (1978)
Kritik, Widerstand und Förderung junger Autoren
"gegen den Strom zu schwimmen, sich mit dem Königshof anzulegen" (Franz Fühmann, Das Ohr des Dionysios)
In den 1970er und 1980er Jahren setzte sich Fühmann aktiv für junge Autoren wie Wolfgang Hilbig und Uwe Kolbe ein. Er gehörte zu den Erstunterzeichnern des Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und wurde zu einer wichtigen Stimme des Widerstands innerhalb der DDR. Gleichzeitig blieb er der DDR verpflichtet und suchte den Dialog mit der Staatsführung, um für die Freiheit der Kunst einzutreten.
1984: Der Tod eines Suchenden
Franz Fühmann starb am 8. Juli 1984 in der Berliner Charité an einer Krebserkrankung. Seine Werke, geprägt von der Auseinandersetzung mit Schuld, Verantwortung und den moralischen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, machen ihn zu einer der bedeutendsten Stimmen der deutschen Nachkriegsliteratur. Sein Vermächtnis bleibt ein Aufruf zur kritischen Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Menschheit.
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