"Die vierte Gewalt" Precht, Welzer und die große Angst der Hauptstadtjournalisten

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Die Bestsellerautoren Richard David Precht und Harald Welzer beklagen in ihrem ersten gemeinsamen Buch die Strukturen des Medienbetriebes. Als große Gefahr erscheinen dabei insbesondere Soziale Netzwerke die Twitter. Dass die Autoren einen Punkt getroffen haben, zeigte sich bereits vor der Veröffentlichung des Buches... Bild: S. Fischer

Der in den vergangenen Jahren rasant zunehmenden Angst, diese oder jene Aussage könnte von der "falschen Seite" vereinnahmt und instrumentalisiert werden, folgte schnell ein stumpfes Erstarren in Unmissverständlichkeit. Bevor ich Mehrdeutiges zu sagen wage, wiederhole ich lieber jene Parolen, die innerhalb meines eigenen, verfestigten Lagers rauf und runtergebetet werden. Um geschützt zu bleiben. Um den befeindeten Lagern bloß keine Munition zu liefern. Um nicht von den Meinigen ins Lager der Einseitigen geschoben zu werden, vereinseitige und - das ist gewissermaßen die Konsequenz - radikalisiere ich mich. Wer diesen Lager-Rigorismus kritisiert oder öffentlichkeitswirksam in Frage stellt, muss in Kauf nehmen, als potenzieller "Querdenker", "Schwurbler" oder Ähnliches bezeichnet und also abgewatscht zu werden. Wie erschreckend schnell solche Urteile gefällt werden, haben wir unlängst am Beispiel der Ankündigung des Buches "Die vierte Gewalt" von Harald Welzer und Richard David Precht erleben können. Darin kritisieren die Autoren die Strukturen der gegenwärtigen Medienmaschinerie und unterscheiden zwischen "öffentlicher" und "veröffentlichter" Meinung.

Kategorien fungieren im öffentlichen Diskurs immer häufiger als Endlagerstätte, wo unter anderem auch der abgeladen wird, der sich einer Symboldemokratie entziehen und die argumentative Auseinandersetzung anstelle des vorschnellen Urteilens setzen will. Wie gern würde man angesichts dieser Entwicklungen mit einer Variation des Gregor Gysi-Satzes "Um Ihre Demokratie will ich mich nicht sorgen" antworten und also sagen: Meine gesamte Kraft verwende ich weiterhin auf meine Idee von Demokratie, auf meine Idee eines Sozialen Miteinanders, auf meine Vorstellungen davon, wie eine gerechte Welt auszusehen hätte. Doch liefe man damit Gefahr, in eben jenes Muster der Verbunkerung zu fallen, welches aufgebrochen gehört. Der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer haben mit ihrem Buch "Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist" einen solchen Aufbruchsversuch gewagt und beleuchtet, was ihrer Meinung nach falsch läuft im deutschen Medienbetrieb.

Miriam Hollsteins "Schwurblerlager"

Um welch ein Kernproblem es sich dabei handelt, kann wohl am besten mit den Reaktionen jener beschrieben werden, an die sich das Buch richtet. Da traten plötzlich Medienakteure auf, die schäumend-schnaufend zum Mobiltelefon griffen, um affektgebeutelt zu kritisieren, was sie überhaupt nicht lesen und also nicht kennen konnten. So schrieb die "t-online"-Chefreporterin Miriam Hollstein, kurz nachdem der Verlag das hier besprochene Buch angekündigt hatte, Precht sei "jetzt endgültig im Schwurblerlager angekommen". Die spätere Erklärung Hollsteins, ihre Äußerung habe sich lediglich auf den Untertitel des Buches bezogen, zeigt, wie dringend über das Thema Meinungsbildung in medialen Diskursen gesprochen werden muss.

Im bloßen Affekt, der nicht nur Triebfeder, d.h. handlungseinleitend, sondern gleich auch die ganze Konsequenz ist, sehen Welzer und Precht eine Bedrohung für den von ihnen so genannten deutschen "Qualitätsjournalismus". Die schnelle Headline, der reißerische Tweet, ein sich tiefgründig gebende Populismus, die Partei ergreifende Satire: Bedroht ist die deutsche Medienlandschaft von den Vertretern dieses Segments selbst, die allzuoft urteilen, wo sie kritisch überprüfen sollten.

Die Tendenzen einer "Mediokratie"

Dass es in Deutschland immer weniger Vertrauen in die Leitmedien gibt, sollte für die Wenigsten eine Neuigkeit sein. Interessant ist jedoch, dass "Die vierte Gewalt" dazu anregt, von diesem Vertrauensverlust aus einen Bogen zu den "Direktmedien" - gemeint sind Soziale Plattformen wie beispielsweise "Twitter" - zu schlagen. Diese Direktmedien verleiten bekanntermaßen dazu, die eigene Meinung schrankenlosen und öffentlichkeitswirksam auszudrücken; Politik also nicht nur zu kommentieren, sondern sich selbst als ein politischer Akteur zu formieren. Die Gefahr dabei ist, dass sich diese im Twitter-Raum großgezogenen individuell-heroischen Tendenzen auf den "Qualitätsjournalismus" abfärben, was einen schleichenden Paradigmenwechsel mit sich bringt, der das, was "Meinung" sein soll, nach und nach in die Richtung eines "Urteils" verschiebt.

Wie selbstverständlich der offene, unredigierte Diskurs in den Journalismus eingeflossen ist, können wir unter anderem daran erkennen, dass Tweets mittlerweile zur Grundlage ganzer Beiträge gemacht werden. Die "Twitter"-Welt aber ist eine Welt der schlagenden und grollenden Symbolik, der verhärteten Gräben, der zu Beginn dieses Artikels beschriebene Eindimensionalität. Eine solide und diskursbereite Mitte sucht man dort vergeblich. Eben diese aber, sollten die Medien laut Precht und Welzer abbilden. Das ist gemeint, wenn die Autoren "öffentliche" von "veröffentlichter" Meinung unterscheiden. Erstere ist beizeiten in Umfragen abzulesen. Letztere hat sich in gewissen, vielleicht sogar "elitären" Kreisen gebildet, wird dort aufgegriffen und medienwirksam reproduziert, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich um Mehrheitsmeinung.

Selbstreflexion als Anfang

So ist dann auch von einer "Mediokratie" die Rede, in der politische Journalistinnen und Journalisten, aktivistisch beflügelt, weit über das Aufdecken, Abbilden und Abwägen hinausgehen, ohne sich selbst dabei in Frage zu stellen, den eigenen Anspruch und dessen Konsequenzen zu prüfen. Wie das funktionieren könnte, zeigt Harald Welzer in dem Buch, wenn er mit einem seiner früheren Artikel über den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff ins Gericht geht und sagt, dieser sei "auf ungute Weise aktiver Teil einer journalistischen Meutenbildung" gewesen.

Selbstreflexion als Anfang also, um nicht unhinterfragt ungeprüfte Dinge zu übernehmen, sich der eigenen Wirkung und Wirksamkeit bewusst zu werden und - warum nicht? - den Wert der eigenen Tätigkeit eventuell fernab des Ergebnisses, des Produktes, des beabsichtigten Resultats erkennen zu können. Es ist klar: Das Verlangen nach Selbstreflexion - nicht nur innerhalb des medialen Kosmus - gleicht einer Kampfansage an sämtlichen Soziale Netzwerke, die von Affekt und Affizierung leben. Der "Deutsche Qualitäsjournalismus" aber sollte sich so einrichten, dass er lediglich beschreibt und beurteilt, womit er sich zuvor inständig beschäftigt hat.


Richard David Precht, Harald Welzer - "Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist" / S. Fischer / 2022 / 288 Seiten / 22 Euro

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