"Die vierte Gewalt" Welzer und Precht: Die veröffentlichte Meinung ist nicht die öffentliche

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In ihrem ersten gemeinsamen Buch "Die vierte Gewalt" konstatieren der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer eine Schieflage in der medialen Berichterstattung. In einem Interview mit dem Börsenblatt sprachen die Autoren nun über Expertise, den Hang zur Vereinheitlichung innerhalb der Leitmedien und den Unterschied zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. "Die vierte Gewalt" erscheint am 28. September bei S. Fischer.

Wer die Berichterstattung deutscher Leitmedien aufmerksam verfolgt, könnte Gefahr laufen, Aufmerksamkeit einzubüßen. Diese Gefahr besteht freilich nicht nur im Zuge der Lektüre prominenter Blätter. Die Annahme jedoch, dass sie eben dort nicht bestünde, könnte für die Meinungsbildung desaströse Folgen haben. Der Philosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer haben ein Buch über die Dynamiken und Mechanismen innerhalb der medialen Berichterstattung geschrieben. In "Die vierte Gewalt" zeigen sie laut Untertitel, "wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist". Wichtig ist dabei unter anderem der Unterschied zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung. In einem Interview mit dem Börsenblatt haben die Autoren nun erste Einblicke in die Thematik gewährt.

Die Direktmedien als Affekterzeuger

Etwa drei Monate hätten sie an dem Buch gearbeitet, erklären Precht und Welzer gleich zu Beginn des Gesprächs. Das Buch sei ja keine Habilitationsschrift, sondern ein langer Essay, der Themen behandle, mit denen sich beide Autoren bereits vorher schon beschäftigt hätten. Die Annahme, man werfe mit der Schrift "den Medien" einen Hang zu einseitiger, simplifizierender und moralisierender Meinungsmache vor, sei falsch. Vielmehr ginge es um die Analyse derjenigen "Mechanismen, die die Medien seit Aufkommen der Direktmedien stark verändert haben."

Diese Analyse umfasst laut Welzer ein Bündel von Faktoren. Wichtig sei dabei das Aufkommen der Direktmedien. "Erregungsproduktion, Moralisierung von Themen, das Aufsetzen auf Trends, das Schauen danach, was auf Twitter abgeht." - das seien Phänomene, die, von diesen Direktmedien kommend, auch auf andere Sparten der Berichterstattung übergriffen hätten.

Des Weitern gehen die Autoren auf die Nähe zwischen Spitzenpolitiker und politische Journalisten ein, die, so Welzer im Gespräch, das Weltgeschehen aus einer ähnlichen bis identischen Perspektive betrachten. Es fehle dabei die Abbildung der Meinungen und Absichten der Bürgerinnen und Bürger vor Ort.

"Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird – auch wenn sie keine ist"

Auf die Frage zum Untertitel des Buches - "Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird - auch wenn sie keine ist" - antwortet Precht, an Welzer anschließend, es fehle oftmals die Rückbildung zu den Menschen. "Journalisten richten sich nach dem aus, was andere Journalisten meinen und denken". Eine Art Elfenbeinturm-Journalismus also.

Dass die veröffentlichte und die öffentliche Meinung oftmals auseinandergehen, habe man zuletzt am Beispiel der Debatte um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sehen können. "Da geht die Meinung der Bevölkerung in etwa 50 zu 50 auseinander", so Welzer. In den Medien müsse man allerdings lange suchen, bis man auf einen Bericht oder einen Kommentar stößt, der sich gegen Waffenlieferungen ausspricht. Wenn Bürgerinnen und Bürger nun aber die Erfahrung machen, dass ihre eigene Meinung innerhalb der Medien unterrepräsentiert ist, dann sinkt das Medienvertrauen auch im Allgemeinen.

Angriffe bevor das Buch erschienen ist

Bereits vor Erscheinen des Buches, gab es Journalistinnen und Journalisten, die die Autoren zum Teil sogar in die "Querdenker"-Ecke gestellt, oder ihnen persönliche Abwehrreflexe unterstellt haben. Dass solcherlei überbordende, und nicht zuletzt selbst aus einer affektiven Abwehrhaltung resultierenden Reaktionen die im Text dargelegten Probleme untermauern, ist interessant. Im Buch gebe es ein ganzes Kapitel, das sich mit dem moralisieren und personalisieren von Debatten beschäftigt, verrät Precht:

"Anstatt sich mit einer Kritik subtil auseinanderzusetzen, stellt man mal als erstes Menschen in eine bestimmte Ecke und versucht sie mit irgendeinem moralischen Gewaltargument als indiskutabel darzustellen. Das haben wir beschrieben und geben es von Anfang an bekannt. Und nun schauen wir doch mal: Wer wird diesen Mechanismus tatsächlich bedienen, und wer ist in der Lage, sich über ihn hinwegzusetzen?"

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