Die Krankheit des Landes, brach und zersetzt Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Wilderer"

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Ohnmacht, Kargheit, Tristesse - Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt eine Dorfgeschichte, wie sie nur jemand schreiben kann, der etwas vom Leben auf dem Dorf versteht. In "Wilderer" haben wir es mit Wünschen, Paranoia und tiefsitzendem (Selbst)Hass zu tun. Bild: S. Fischer Verlag

Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt mit seinem für den Deutschen Buchpreis 2022 nominierten Roman "Wilderer" nicht nur eine Geschichte über physische und psychische Stadt-Land-Gefälle, sondern auch ein Gleichniss auf die zuweilen rohe, radikale und immer unberechenbare Kraft des Künstlerischen. "Wilderer" unterscheidet sich fundamental von den vielen Dorfromanen, die uns in den vergangenen zwei, drei Jahren zuhauf vor die Füße geschmissen wurden. Hier ist die Tristesse nicht nur ein Vehikel, das nett, düster und verzweifelt beschrieben werden kann. Hier bekommt die Ödnis eine parabolische Funktion.

Jakob Fischer, Protagonist in Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Wilderer", musste bereits als Jugendlicher auf dem elterlichen Bauernhof aufhelfen. Jetzt, Anfang zwanzig, geht es daran, den Hof zu übernehmen. Jakobs Vater allerdings ist skeptisch, weiß nicht recht, ob der Sohn in der Lage ist einen Betrieb zu führen. Er hält ihn für einen Hallodri, der abwegigen Ideen nachhängt und selten bei der Sache ist. Und tatsächlich fragt sich Jakob ab und an, was wohl aus ihm geworden wäre, wäre er nicht hier, in dieses Leben, in diesen Hof hineingeboren worden.

Ein fragiles Konstrukt, ein bestialischer Ausbruch

Mit viel Disziplin, Konzentration und Struktur gelingt Jakob schließlich, was der Vater für so abwegig hielt: Er übernimmt den Hof. Das Konstrukt "Betrieb" ist dabei auf einer strengen und hart erkämpften Ordnung errichtet, einer Ordnung, die, das ahnt man früh, jederzeit wieder in sich zusammenfallen, einbrechen könnte. Über diese Fragilität wird uns der Charakter Jakob näher gebracht. Im immer drohenden Einsturz des Betriebs zeigt sich die Angst vor dem eigenen Kontrollverlust, vor dem Brodeln, welches er gelegentlich in sich aufkommen, hochkochen fühlt. Im doppelten Sinne ist Jakob Tag und Nacht damit beschäftigt, sich im Zaum zu halten, zu kontrollieren.

Den befürchteten, bestialischen Ausbruch verlegt Reinhard Kaiser-Mühlecker dann gekonnt auf die Hündin des jungen Bauern. Als Landa - so der Name des Tiers - eines Tages ausreißt und mit blutigen Vorderpfoten zum Hof zurückkehrt, stehen wir als Leser inmitten dessen, was der Titel des Romans uns verspricht. Das Wildern hat begonnen. Die Hündin will nicht mehr fressen, krümmt sich vor Schmerzen, wird sterben. Jakob sieht im Tod des Tieres auch ein eigenes Versagen: Er hat es nicht geschafft, Landa zu domestizieren. Damit ist eine Schwelle überquert, die einige andere Dammbrüche nach sich ziehen wird.

Das Wildern

Jakob ist auf Dating-Plattformen unterwegs, durchstreift ein virtuelles Gehege, auf dem uns das Motiv des Wilderns in vielfacher Ausführungen tagtäglich begegnet. Der Autor zeigt: Die Gehässigkeit, die blanke Brutalität unserer Tage, endet nur selten mit- beziehungsweise vor einer Blutlache. Vielmehr fallen Gehässigkeit und Brutalität mit der Selbstverständlichkeit zusammen, mit der wir unsere Wege gehen, swipen, Karrieren suchen, Orte verlassen, nach Absicherungen und Sicherheit suchen. Nicht zurückschauen, weiterhetzen. Jakob hat wenig Glück mit den Frauen. Sei es die eigene Schwester, die das Dorf verlassen und sich ein Leben in Hamburg eingerichtet hat, sei es mit seiner Ex-Freundin Nina, die ihm vor einigen Jahren eine Vaterschaft anzuhängen versuchte. Auch im Rating-Bereich erlebt er immer wieder Niederschläge.

Die trübe Aussicht klart plötzlich auf, als der die Künstlerin Katja kennenlernt, die im Rahmen eines dreimonatigen Stipendiums ins Dorf gezogen ist. Die beiden kennen sich bereits von Tinder, treffen sich, lernen sich kennen, verlieben sich schließlich ineinander. Und tatsächlich bildet sich aus dem Treffen eine stabile und intakte Beziehung. Katja blickt nicht mit dem kalten, analytischen Blick der Städter auf das Dorf, packt ordentlich mit an und fügt sich als stabilisierender Teil in das Konstrukt Bauernhof ein. Das Paar zieht zusammen, gründet eine Familie, stellt den Hof auf Biolandwirtschaft um... Alles blumig und idyllisch, wäre da nicht das tiefe Grollen, das weiter in Jakob nagt und wie eine dunkle, suggestiv angelegte Bedrohung Beziehungs- Familien- und Zukunftsplanung begleitet.

Eine Rebellion gegen die Macht der Geräte

Der junge Mann, der, wie es im Buch heißt, nur lebt, weil der Tod noch nicht da ist, beginnt in Katja eine Wilderin zu sehen, ein Eindringling, der ein fremdes, aus städtischer Sicht vielleicht exotisches, Lebendie in seinem Gebiet eingedrungen ist, um später damit prahlen zu können, so jemanden wie Jakob gehabt zu haben. Hinter der Frage, "was will so eine wie Katja von mir" versteckt sich ein familiäres Trauma, sich stauende Selbstzweifel, die, sollten sie auch nur einen Moment lang nicht zurückgehalten werden können, sich in Furchtbares ergießen.

"Wilderer" ist eine erschütternde Ohnmachtsbeschreibung, ein Roman über die Gewalt innerhalb menschlicher Naturen, ein Buch, das ins Tageslicht hebt, was durch Taktung und Planung, durch Analysen und Statistiken bedeckt, niedergedrückt werden soll. So haben wir es hier auch mit einer geschriebenen Rebellion gegen die Herrschaft der Geräte und Maschinen zu tun. Lesend müssen wir uns unweigerlich fragen, wie wenig menschliche Natur in uns geblieben ist, wann und auf welche Weise dieser Rest sich zeigt, wie vorsichtig, wie spärlich, wie gewollt und überwacht. Am Ende ist es an uns, den Bauer Jakob und die Künstlerin Katja gegenüberzustellen und zu fragen: Wer von den beiden die Bezeichnung Künstler verdient.


Reinhard Kaiser-Mühlecker - "Wilderer" / S. Fischer Verlag / 2022 / 350 Seiten / 24 Euro


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