Interview mit Helmut Ortner "Geschichte vergeht nicht. Sie wirkt fort."

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Deutschland in den Nachkriegsjahren. Der Nazi-Wahn wurde zur austauschbaren Metapher des Bösen, persönliche Schuld relativiert. Der Journalist Helmut Ortner hat darüber ein Buch geschrieben. Lesering hat mit dem Autor gesprochen. Über Lebenslügen der jungen Bundesrepublik, kollektives Verdrängen und Sophie Scholl als Instagram-Star.

Bild: Pixabay (Symbolbild)

Herr Ortner, in Ihrem Buch "Volk im Wahn" beschäftigen Sie sich mit der Normalisierung und dem allmählichen Vergessen der NS-Verbrechen. Gab es einen ausschlaggebenden Moment, einen Punkt, der dazu führte, sich dem Thema "Vergessen" zuzuwenden?

Nein, ich arbeite seit Jahren kontinuierlich zu diesem Thema. Dazu habe ich in der Vergangenheit eine Vielzahl von Büchern und Aufsätze publiziert. Das aktuelle Buch bündelt einige meiner Essays und Reportagen – gewissermaßen ein Plädoyer gegen das Vergessen.

In einer Kritik der Frankfurter Rundschau hieß es, es sei beschämend, dass es heute noch Bücher wie diese bedürfe... aber es sei auch notwendig, dass es sie gäbe.

Wie wir mit Geschichte umgehen, ändert sich womöglich auch mit den Zugriffs- und Rezeptionsmöglichkeiten. In ihrem Buch beziehen sie sich unter anderem auf Inhalte Sozialer Plattformen und zeigen, wie diese Vergessen fördern können. Können Sie das ausführen?

Ja, Anschauungsmaterial hierfür bietet beispielsweise eine Instagram-Soap, die dem einhundersten Geburtstag von Sophie Scholl gewidmet war und mit der die ARD den Nationalsozialismus aus den Geschichtsbüchern für eine junge Follower-Community ins Hier und Jetzt holen wollte. Hier erzählte eine Influencer-Sophie aus ihrem Leben, teilte Propagandafilme der Nationalsozialisten und ihre Gedanken dazu, postete allerlei Fotos. Fast eine Million abonnierten den Account. In dieser digitalen History-Soap gibt es allerlei rhetorischen und gedanklichen Unrat, beispielsweise Sätze wie „Hitler macht seit 1933 Jüdinnen und Juden das Leben in Deutschland schwer“. Nein, nicht Hitler allein hat den Jüdinnen und Juden „das Leben schwer gemacht“, es waren die braven Deutschen. Sie haben für die alltägliche Diskriminierung, für Verfolgung und Vernichtung, täglich selbst gesorgt. So trägt man leichtfertig zur Verflachung und Relativierung der Nazi-Barbarei bei.

Im Untertitel Ihres Buches heißt es „Die Gegenwart der Vergangenheit“. Wenn sie auf die Bundesrepublik im Jahre 2022 blicken: Wo glauben Sie, könnte man von „Wahn des Volkes“ sprechen?

Geschichte vergeht nicht. Geschichte wirkt fort – auch in Unwissen, Gleichgültigkeit und Verfälschung. Im schlimmsten Fall auch in der Wiederholungen. Meine Texte handeln davon. Sie berichten und beschreiben solcherlei geschichtsvergessene Entwicklungen und Tendenzen.

Es geht heute – anders als während der Nazi-Ära - nicht um Formen des kollektiven Wahns, sondern um die Ortung und Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bei allen kollektiven Erregungs- und Empörungs-Zyklen, die von Zeit zu Zeit unser Land erfassen (von Pegida bis Querdenker), leben wir heute doch in einem gefestigten Rechtsstaat, der Vielfalt und Individualität schützt und fördert.

Um diesen gefestigten Rechtsstaat wiederum zu stützen und zu verteidigen: Welche Verantwortung und Verpflichtungen sehen Sie bei jüngeren Generationen?

Die Frage, die bleibt: Ist die heutige, die politisch und moralisch schuldlose Generation, nun endgültig entlassen aus der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und seinem Erbe? Oder: Beginnt nicht die Verantwortung nachfolgender Generationen bei der Frage, ob sie sich erinnern will? Mein Buch versteht sich als ein Plädoyer gegen jede Verharmlosung und Relativierung der NS-Vergangenheit. Nazi-Vergangenheit verjährt nicht. Es gibt eine Verpflichtung: die des Erinnerns.

Unmittelbar nach 1945 wollte man hingegen schnell vergessen. Sie zeigen das eindrücklich am Beispiel der Justiz. Richter und Staatsanwälte, die während der NS-Zeit scharfe Urteile gesprochen hatten, sind nach Kriegsende weitestgehend verschont geblieben.

Die meisten ehemalige Nazi-Juristen – auch jene, die für Todesurteile verantwortlich waren – konnten in der Adenauer-Republik ihre Karrieren fortsetzen und gingen später gut versorgt in Pension, während die Opfer um mickrige Rentenansprüche kämpfen mussten. Kein Volksgerichtshof-Richter wurde nach 1945 verurteilt. Eine schwer erträgliche Tatsache.

In meinem Buch beschreibe ich die unterbliebenen und gescheiterten Versuche, die Verbrechen der Nazi-Justiz durch die Justiz der Bundesrepublik zu verfolgen. Bis 2021 erschienen die beiden wichtigsten Kommentar-Sammlungen zum Grundgesetzt und Bürgerlichen Gesetzbuch unter der Herausgeberschaft und den Namen von Palandt, Maunz und Schönfelder. Alle drei hatten als einflussreiche Juristen den Nazis gedient und juristische Legitimität verschafft. Soviel zur "Gegenwart der Vergangenheit"...

Ein besonders prägnantes Symptom der kollektiven Verdrängung innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft?

Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den NS-Verstrickungen, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster Hitler-Deutschlands, nichts mehr wissen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit fiel lange schwer, sie erinnerte an eigene Versäumnisse und Mitschuld, an Feigheit und Mutlosigkeit. Daraus folgte eine kollektive Verdrängung. Das änderte sich erst ab den 70er-Jahren, als die junge Generation wissen wollte, was ihre Väter und Großväter gemacht oder unterlassen hatten.

Wo sehen Sie Ausläufer dieser Verdrängungskultur heute? Und wie sollte insbesondere die mediale Berichterstattung diesen Tendenzen entgegensteuern?

Es braucht Aufklärung. Nicht Fake-Soaps und Boulevard. Nazi-Vergangenheit verjährt nicht. Es gibt eine Verpflichtung: die des Erinnerns. Für jede Generation. Mein Buch will dazu beitragen.





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