Licht, Stille, ein Vers Zwischen Vers und Verwandlung – Fitzebutze als poetische Kindheitsform

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Noch bevor das Fest beginnt, erklingt ein Gedicht. In einem Kinderzimmer flackern Lichter, zwei Kinder spielen, ein Hampelmann zappelt – so beginnt Fitzebutze, jenes ungewöhnliche Kinderbuch von Paula und Richard Dehmel, erstmals erschienen im Jahr 1900. Es erzählt in 25 Kapiteln die nächtliche Reise zweier Kinder – Detta und Heinz – in eine Welt aus Vers, Traum und Verwandlung.

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Fitzebutze: Traumspiel in 5 Aufzügen (Classic Reprint)

Der Schauplatz ist klar verortet: „Unter dem Mond, zwischen Weihnacht und Neujahr.“ Diese Zwischenzeit – weder ganz Fest noch ganz Alltag – ist selbst schon eine poetische Figur. Sie erlaubt, was tagsüber nicht möglich ist: dass sich Dinge verwandeln, dass Figuren auftauchen, die sonst verborgen bleiben.

Husch, husch, husch,
wir schlüpfen aus dem Busch.
Der Mond ist da, der Mond ist hell,
der Mond ist unser Spielgesell –
husch! (Fitzebutze von Paula und Richard Dehmel)

Vom Struwwel zur Fantasie

Was heute verspielt und vielleicht etwas altertümlich wirkt, war zur Zeit seiner Entstehung ein Aufbruch. In einer literarischen Welt, die noch unter dem Einfluss des Struwwelpeter stand – mit seinen drastischen Morallektionen und bildstarken Drohgebärden –, bricht Fitzebutze eine neue Tür auf: hin zu einem Kinderbild, das das Fantastische nicht zähmt, sondern entfaltet.

Die Dehmels verlagern den Blick: weg von der Frömmigkeit, der Strafe, der Tugend. Stattdessen rückt das Kind selbst in den Mittelpunkt – mit seiner Wahrnehmung, seinem Spieltrieb, seinem Eigenleben. Die Geschwister Detta und Heinzsind keine Miniaturerwachsenen, sondern eigenständige Figuren mit poetischer Autonomie. Sie hören, sehen, träumen anders. Und sie geraten in ein Spiel, das schnell außer Kontrolle gerät – weil der Hampelmann, Fitzebutze, mehr ist als ein Spielzeug.

Ein Personal zwischen Traum und Geste

Die Dramaturgie von Fitzebutze ist zugleich schlicht und geheimnisvoll. Da ist Fitzebutze, der Hampelmann mit Ziegenbart und seidenem Kaftan, halb Puppe, halb Dämon. Da ist Freund Husch, der Traumgeist mit Zauberblume, ein Ordnungsstifter im Reich der Imagination. Da ist die Mutter, ruhig, wach, vermittelnd – eine Figur der Geborgenheit. Doch je weiter die Kinder sich von der Alltagswelt entfernen, desto mehr Figuren tauchen auf: der Weihnachtsmann, der Maikönig, die Puhstemuhme, eine ganze Schar von Elfen und anderen Traumgestalten.

Dieses Figurenensemble folgt keiner moralischen Logik, sondern einer poetischen. Es erinnert an Kinderzeichnungen, in denen Welt und Fantasie ineinanderfließen. Die Nacht ist offen – für Besucher, Verwandlungen, Zweifel. Und Fitzebutzemacht daraus eine Choreografie: Wer erscheint, bringt einen Rhythmus mit. Wer verschwindet, hinterlässt ein Echo.

Bilder, die vorauseilen

Bahnbrechend sind die Illustrationen des Buches. Sie stammen von Ernst Kreidolf, einem Pionier der modernen Kinderbuchkunst, dessen Stil Jugendstil, Naturbeobachtung und märchenhafte Abstraktion verbindet.

Die Zeichnungen rhythmisieren den Text, sie begleiten nicht, sie kommentieren. Flächen werden zu Stimmungen, Linien zu Bewegungen. Selbst Nebenfiguren wie der Maikönig oder die Puhstemuhme erscheinen nicht als Karikatur, sondern als poetische Präsenz.

Erschienen ist die Originalausgabe bei Insel Verlag Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig – einem Haus, das um die Jahrhundertwende Literatur, Kunst und Buchgestaltung zu verbinden wusste.

Von der Seite zur Szene

Fitzebutze blieb nicht im Buch. Es wurde vertont, dramatisiert, auf die Bühne gebracht – und damit in eine neue Dimension überführt: das Theater des kindlichen Traums. Die 25 Kapitel lesen sich heute wie eine Partitur: Licht, Klang, Versmaß greifen ineinander.

Die Figuren – Fitzebutze, Husch, Detta und Heinz, später auch der Weihnachtsmann und andere Traumwesen – erscheinen nicht nur, sie agieren rhythmisch. Sie folgen einer inneren Musik, die manchmal tanzt, manchmal droht, manchmal heilt.

Die Inszenierung-ein Traumspiel in 5 Aufzügen- erinnert in ihrer Anlage an Humperdincks Hänsel und Gretel, ebenfalls zwischen Weihnachtszeit, Traum und Kinderwelt angesiedelt.

Von der Seite zur Szene – ein Traumspiel in fünf Aufzügen

Fitzebutze blieb nicht im Buch. Es wurde vertont, dramatisiert, erweitert zu einem Bühnenstück – als Traumspiel in fünf Aufzügen. Diese Fassung, erhalten und aufführbar, entfaltet die kindliche Erfahrung als theatrale Bewegung: Musik, Licht, Szene und Reim greifen ineinander wie ein Uhrwerk des Unbewussten.

Die Figuren – Fitzebutze, Husch, Detta und Heinz – erscheinen nicht nur, sie handeln musikalisch. Sie singen, zappeln, verschwinden. Und am Rand des Spiels: eine Mutter, ein Fenster, ein Licht. Die Bühne wird zum Übergangsraum – nicht zur Kulisse.

Die Nähe zu Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel ist spürbar: Auch dort das Dunkel, das Lied, die Angst. Aber Fitzebutze ist zarter, kammermusikalischer. Kein Pathos, sondern Poesie.

Zwischen Tinte und Traum

Am Ende steht nicht die Moral, sondern der Schlaf. Das Versöhnungslied, das Gebet, das Versinken im Licht. Selbst der Tintenfleck – Symbol eines kleinen Alltagsvergehens – wird nicht gesühnt, sondern verstanden. Die Mutter deckt ihn zu. Die Kinder schlafen. Der Hampelmann hängt wieder still.

Fitzebutze entlässt seine Leser nicht mit einer Lehre, sondern mit einer Bewegung: von der Fantasie zurück in die Welt, mit einer Spur Licht im Dunkel. Kindheit nicht als Stadium, sondern als Zustand zwischen Hören und Sprechen, Spielen und Träumen, Warten und Verwandlung.

Ein vergessenes Licht

Wer Fitzebutze heute lesen will, muss suchen. Das Buch ist vergriffen, nur antiquarisch auffindbar – ein Klassiker, der den Verlagen aus den Augen geraten ist. Vielleicht zu leise, zu kunstvoll, zu viel dazwischen.

Das Bühnenstück jedoch – als Traumspiel in fünf Aufzügen – ist nach wie vor erhältlich. Es bewahrt das, was das Buch einst entfaltete: eine Ahnung davon, wie Kindheit klingt, wenn man ihr zuhört. Und wie Literatur leuchten kann – auch unter dem Mond, zwischen Weihnacht und Neujahr.

Bibliographische Notiz

Fitzebutze. Allerhand Schnickschnack für Kinder von Paula und Richard Dehmel. Erstausgabe 1900 bei Insel Verlag Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig. Illustrationen von Ernst Kreidolf. Faksimile-Ausgabe mit Nachwort von H.-D. Weyrich, Edition Leipzig, 1968. Kinderbuch in 25 Kapiteln. Bühnenstück als „Traumspiel in fünf Aufzügen“.


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