Ein Schutzraum, eine Familie im Schlafanzug, ein Morgen wie aus der Zeit gefallen – dann das Geräusch splitternden Glases. Wer mit dieser Szene beginnt, muss nichts mehr erklären. Eli Sharabis Memoir 491 Tage. In den Tunneln der Hamas (Suhrkamp, 2025) nimmt seinen Anfang im Moment der Zerschlagung von Gewissheiten: Am 7. Oktober 2023 stürmen bewaffnete Kämpfer der Hamas den Kibbuz Be’eri, dringen in Sharabis Haus ein, entführen ihn. Seine Frau und die beiden Töchter werden später ermordet aufgefunden.
Zwischen Licht und Leere. Eli Sharabis „491 Tage“ – ein Zeugnis des Überlebens
Der Bericht, der aus dieser Erfahrung entsteht, ist kein literarisch codierter Text. Er ist Zeugnis, Verdichtung, Reparaturversuch – aber ohne Trostgeste. Er dokumentiert die 491 Tage in unterirdischen Verstecken Gazas, in der Dunkelheit einer nicht nur physischen Gefangenschaft. Die Sprache bleibt schlicht, das Grauen konkret. Es ist ein Buch über Hunger, über Geräusche, über das Schweigen zwischen Menschen, über das Warten auf einen Tag, der vielleicht gar nicht kommt.
„I had to stop hoping“
In einem Interview mit The Jerusalem Report beschreibt Sharabi rückblickend: „I had to stop hoping. Hope was too heavy. It pulled me down when I needed to keep my mind afloat“ (Eglash, Ruth Marks: The Jerusalem Report, 5.10.2025). Hoffnung – nicht als Rettung, sondern als Gewicht. Das ist keine poetische Metapher, sondern eine psychologische Diagnose. Der Text arbeitet nicht mit Symbolik, sondern mit Symptomen: Angstzustände, körperlicher Verfall, der Verlust des Zeitgefühls.
Die Gefangenschaft zerstört nicht nur den Alltag, sie verändert die Wahrnehmung. „I forgot what my daughters’ voices sounded like“, sagt Sharabi im selben Interview. „I stopped dreaming because dreams only brought pain“ (ebd.). Dieser Entzug von Zukunft – auch das ist eine Form der Gewalt.
Sprache gegen das Verstummen
Sharabis Memoir ist nicht literarisiert, aber es folgt einer Dramaturgie: Kapitel strukturieren die Zeit, Rückblenden füllen die Leere der Tunnel mit Erinnerungen an das Leben davor. Immer wieder beschreibt der Text mikroskopische Begebenheiten: wie das Essen verteilt wurde, wie Gesten der Mitmenschlichkeit selbst unter Entführern entstanden. Die Sprache urteilt nicht. Sie registriert.
Das Entscheidende aber ist der Akt des Erzählens selbst. „Writing this book was the hardest thing I’ve ever done“, sagt Sharabi. „But if I didn’t tell the story, I would have remained in the tunnels forever“ (ebd.). Erzählen wird zur Möglichkeit der Rückkehr – nicht ins alte Leben, sondern in eine Sphäre, in der Erfahrung geteilt, erinnert, gespiegelt werden kann.
Das Politische im Persönlichen
491 Tage ist nicht nur ein Dokument der individuellen Traumatisierung, sondern auch ein politisches Buch – weil es den Raum zwischen privatem Erleben und öffentlicher Gewalt markiert. Sharabi trifft nach seiner Freilassung Staatsoberhäupter, spricht bei den Vereinten Nationen, führt Gespräche mit NGOs. Aber das Buch bleibt bei sich: Es beschreibt nicht die Welt, sondern einen Körper in ihr. Es spricht nicht für andere, sondern aus sich selbst.
Und doch: Indem es seine Stimme hörbar macht, wird es Teil einer größeren Erzählung über Krieg, Macht und Sprache. Suhrkamp veröffentlicht das Buch zeitgleich in mehreren Ländern – es ist das am schnellsten verkaufte israelische Buch der Geschichte. Vielleicht, weil es etwas wagt, das in vielen Konflikten unterbleibt: es spricht, ohne zu erklären.
Ein Fragment bleibt offen
Eli Sharabi hat seine Familie verloren. Am Ende des Buchs gibt es keine Versöhnung, keine Antwort. Nur den leisen Satz: „I’m still searching for the pieces of myself“ (The Jerusalem Report, ebd.). 491 Tage ist kein Versuch, diese Teile zusammenzusetzen. Es ist der Versuch, sie sichtbar zu machen – für sich, für die Leser, für eine Gesellschaft, die sich erinnern muss, ohne zu vergessen, was Erinnerung kostet.
Hier bestellen
Topnews
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Salman Rushdie: Die elfte Stunde
Anja Kampmann: „Die Wut ist ein heller Stern“
Knochenkälte von Simon Beckett
Laurent Mauvignier erhält den Prix Goncourt 2025 für seine stille, tiefgreifende Familiensaga „La maison vide“
Ian McEwans „Was wir wissen können“: Ein Roman zwischen Rückblick und Zerfall
Kaleb Erdmann : Die Ausweichschule
Jenny Erpenbeck: Heimsuchung
Thomas Bernhards „Holzfällen“ – eine literarische Erregung, die nicht vergeht
Thomas Brasch: Vor den Vätern sterben die Söhne
SenLinYu : Zuerst war Manacled
Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz
Tucholsky – Mit 5 PS: Fast 100 Jahre Literatur auf Störgeräusch
Percival Everett – Dr. No
Sarah Kuttner: Mama & Sam – Wenn Nähe trügt
Mein Name ist Emilia del Valle – Isabel Allende und der lange Atem der Herkunft
Aktuelles
Salman Rushdie: Die elfte Stunde
Biss zur Mittagsstunde von Stephenie Meyer – Wenn Liebe schweigt und Wölfe sprechen
Matthias Aigner: Ich
Markus Wieczorek: Lebenskraft
Michaela Babitsch: Liebevolle Zeilen an die Schwalbe
Peter Bertram: Spuren im Laub
Pia Homberger: Als Frau...
Nachtzug nach Krakau
Denis Johnsons „Train Dreams“
Literatur als Frühwarnsystem – von Pandemie-Romanen bis Klimafiktion
Freunde von Helme Heine
Zum Tod von Helme Heine (1941–2025)
Biss zum Morgengrauen von Stephenie Meyer – Erste Liebe im Dauerregen: Warum dieser Vampirroman bis heute wirkt
Crushing von Genevieve Novak – Millennial-Herz, Dating-Chaos, Humor als Selbstschutz
Maybe in Another Life von Taylor Jenkins Reid – Eine einzige Entscheidung, zwei Lebensläufe
Rezensionen
„Die Leber wächst mit ihren Aufgaben – Komisches aus der Medizin“ von Eckart von Hirschhausen
Der große Sommer von Ewald Arenz– Ein Sommer, der vom Schwimmbad aus die Welt erklärt
Paradise Garden von Elena Fischer– Sommer, Nudeln mit Ketchup und der Moment, der alles teilt
Gespenster denken nicht – Shakespeares Hamlet als Gedankenreise durch ein zersetztes Drama
Qwert von Walter Moers – Ritterrüstung, Dimensionsloch, Herzklopfen
The Gingerbread Bakery von Laurie Gilmore – Zimt in der Luft, Funkstille im Herzen
Darm mit Charme von Giulia Enders – Ein Sachbuch, das den Bauch rehabilitiert
Wenn die Sonne untergeht von Florian Illies– Ein Sommer, der eine Familie und eine Epoche auf Kante näht
Apfelstrudel-Alibi (Rita Falk)– Eberhofer ermittelt zwischen Südtirol, Schnodder und Susi im Bürgermeisteramt
Muttertag von Nele Neuhaus – Ein Taunuskrimi über Mütter, Masken und die langen Schatten der 90er
Der Augensammler Sebastian Fitzek – 45 Stunden, ein Killer mit Ritual und zwei Ermittler, die ihre eigenen Geister kennen
Playlist von Sebastian Fitzek – 15 Songs, ein vermisstes Mädchen, ein Wettlauf gegen die Zeit
Rabenthron von Rebecca Gablé – Königin Emma, ein englischer Junge, ein dänischer Gefangener:
Hiobs Brüder von Rebecca Gablé – Die Anarchie, acht Ausgestoßene und die Frage