Geboren am 28. August 1749 in Frankfurt am Main
Was schenkt man jemandem zum Geburtstag, der schon alles war – Dichter, Denker, Minister, Naturforscher, Theaterleiter, Modephänomen und gelegentlich Halbgott in Weiß? Wahrscheinlich Ruhe. Aber Johann Wolfgang von Goethe war nicht für Ruhe geschaffen. Der Mann, der am 28. August 1749 in Frankfurt zur Welt kam, hat ein Leben geführt, das weniger aus Jahren denn aus Phasen bestand – Sturm, Drang, Klassik, Farben, Pflanzen, Verse. Was heute gern „Werkbiografie“ genannt wird, war bei Goethe eine Lebensform.
Zwischen Ausbruch und Ausdruck – Sturm und Drang
Beginnen wir beim Knall: Die Leiden des jungen Werther, 1774 erschienen, ist bis heute ein Paradebeispiel für literarische Sprengkraft. Die Mischung aus sentimentaler Selbstauflösung, Briefmonolog und aufrührerischem Gefühlskult traf den Nerv einer jungen Generation – so sehr, dass sich einige gleich mit dem Buch in der Hand das Leben nahmen. Goethe selbst distanzierte sich später von diesem „Frühfehler“, doch der Erfolg war nicht mehr einzufangen. Werther wurde zum Mythos – und Goethe zum Popstar der deutschen Empfindsamkeit.
Weniger selbstmitleidig, aber nicht weniger energetisch war sein Götz von Berlichingen (1773), ein Drama mit Eisenfaust und Freiheitsdrang, das Ritterideal und Rebellion verband. Beides sind Jugendwerke, durchpulst vom Impuls, auszubrechen – aus Form, Gesellschaft, Konvention. Goethe ließ seinen Figuren noch die Zähne fletschen, bevor sie sich später auf höfischem Parkett zu zügeln lernten.
Der Minister als Moralist – Weimarer Klassik
1775 folgte er dem Ruf des jungen Herzogs Carl August nach Weimar. Was als Freundschaft begann, wurde bald ein Verwaltungsverhältnis: Goethe erhielt Ämter, Kompetenzen und Verantwortung. Statt Leidenschaft: Protokoll. Statt Genie: Geschäftsordnung. Doch er blieb nicht lange bloßer Beamter. Nach einer Italienreise, die ihm den inneren Marmor polierte, begann eine neue Phase – klassisch, maßvoll, durchdacht. Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso, Egmont – Dramen der inneren Ordnung, der moralischen Integrität, der verzweifelten Selbstbeherrschung.
Goethe schrieb in dieser Zeit nicht mehr gegen die Welt an, sondern über sie hinweg. Seine Sprache wurde klarer, seine Sätze länger, seine Figuren komplizierter. Mit Schiller verband ihn eine Arbeitsfreundschaft, aus der nicht nur die Idee der „Weimarer Klassik“ entstand, sondern auch ein Kulturkonzept: Kunst als Schule des Charakters, Dichtung als moralische Architektur.
Der Mann mit dem Bildungsauftrag – Wilhelm Meister
In Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) erzählt Goethe die Geschichte eines jungen Mannes, der sich aufmacht, die Welt zu verstehen – und dabei vor allem sich selbst. Theater, Liebe, Illusion, Gesellschaft – alles ist hier Teil einer großen Suche nach Form. Es ist der Roman einer Individuation, aber kein Ich-Kult. Vielmehr ein Flanieren durch Milieus, begleitet von Fragen nach Sinn und Haltung. Später folgen die Wanderjahre, diffus, episodisch, altersweise – ein Werk, das sich jeder Nacherzählung widersetzt und gerade deshalb den Wandel des Autors spiegelt: Vom Erzähler zum Beobachter.
Faust – das große Drama
Goethe nannte ihn seinen „Hausfreund“: Faust, das Lebenswerk, das ihn durch Jahrzehnte begleitete. Teil I erschien 1808, Teil II erst posthum 1832. Wer eine lineare Handlung erwartet, ist hier falsch. Faust ist ein Projekt: philosophisch, mythologisch, politisch, grotesk, lyrisch – ein Text, der Welt und Selbst zum Schauplatz macht. Fausts Pakt mit dem Teufel ist kein Märchen, sondern ein Bild für das moderne Bewusstsein: wissensdurstig, rastlos, ambivalent. Mephisto ist dabei weniger Versucher als Kommentator, ein sarkastischer Begleiter durch die Trümmer des Fortschritts.
Auffällig bleibt, wie oft in Goethes Werk Licht und Finsternis gegeneinander antreten – nicht als bloße Allegorien, sondern als existentielle Pole. Die Helle zieht an, die Dunkelheit droht. Dass der Dichter, der so unerschrocken die Tiefen der Seele vermessend durch alle Gattungen wanderte, lebenslang panische Angst vor Dunkelheit hatte, verleiht dieser Dualität eine fast private Dringlichkeit. Goethe schlief mit Kerzenlicht, wich düsteren Gängen aus, sprach von einem „körperlichen Grauen“ beim Anblick völliger Finsternis. Wer Faust aufmerksam liest, entdeckt, wie tief diese Angst poetisch sedimentiert wurde – als metaphysischer Ernst, aber auch als sehr diesseitige Unruhe.
Faust ist kein Stück über Schuld. Es ist ein Stück über Konsequenz. Und über das Menschliche, das so oft zu groß für sich selbst ist. Vielleicht auch zu lichtbedürftig.
Natur, Farben, Pflanzen – der späte Goethe
Je älter er wurde, desto mehr verzweigte sich Goethe. Neben Gedichten und Dramen entstanden naturwissenschaftliche Schriften: Zur Farbenlehre (1810) – eine Mischung aus Empirie, Intuition und antinewtonscher Polemik. Er sezierte Pflanzen, katalogisierte Steine, sammelte Wolkenformationen. Der Dichter war auch ein Forscher – nicht im heutigen Sinne empirischer Reproduzierbarkeit, sondern als Beobachter, Systematiker, Gestaltenseher.
Seine Lyrik aus dieser Zeit, darunter die Römischen Elegien, die West-östlicher Divan-Gedichte und zahllose Altersverse, wirkt abgeklärt und verspielt zugleich. Weniger pathetisch, mehr poetisch. Die Rhythmen sind ruhiger, die Einsichten tiefer, das Ich weniger drängend. Die berühmten späten Liebesgedichte an Ulrike von Levetzow beweisen, dass Goethe selbst mit über 70 noch nicht bereit war, sich der Vernunft ganz zu überlassen.
Goethe als Figur
Man hat ihn idealisiert, kritisiert, verklärt, karikiert. Goethe war nie nur Autor – er war ein literarisches Ereignis. Und ein Mythos. Seine Selbstinszenierung, seine Autobiografie Dichtung und Wahrheit, seine öffentlichen Rollen – alles trug dazu bei, dass er sich nicht nur in Texte schrieb, sondern in das kulturelle Gedächtnis. Für manche ist er das Genie der deutschen Literatur, für andere ein übergroßes Denkmal. Beide haben recht – und liegen zugleich daneben. Denn Goethe bleibt lesbar. Und das ist vermutlich seine größte Leistung.
Ein Augustkind also- eine frühe Jungfrau im Sternbild. Eines, das über Jahrhunderte hinweg den Ton angegeben hat – mal im Akkord des Sturm und Drang, mal im Fugenstil der Klassik. Goethe war vieles - einer der das deutsche Alphabet gründlicher durchmessen hat als jeder vor oder nach ihm. Kein schlechter Anlass, sich mal wieder an den Werther zu wagen – oder an den Mephisto. Mit einer Kerze auf dem Nachttisch, vielleicht.
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