Am 9. Mai 2025 stirbt Nadja Abd el Farrag in Hamburg. Sie wird nur 60 Jahre alt. Ihre letzten Lebensjahre verlaufen weitgehend abseits der Kameras, doch ihre Geschichte bleibt eng verknüpft mit dem grellen Licht der Öffentlichkeit, das sie einst berühmt machte – und später zermürbte. Der Blick auf ihre Autobiografie „Achterbahn“, erschienen 2018 im DVO Verlag, gewinnt durch ihr Ableben an Dringlichkeit. Was damals vielleicht als medienaffiner Aufmerksamkeitsruf gelesen wurde, erscheint heute als düsteres Zeugnis eines gescheiterten Versuchs, Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen.
Ein Leben im Dauerlicht
Bekannt wurde Nadja Abd el Farrag – im Volksmund nur „Naddel“ – als langjährige Partnerin von Dieter Bohlen, dem Pop-Mogul und Modern-Talking-Mitglied. Sie war mehr als bloß schmückendes Beiwerk in der Schlager-Szene der 1990er – als Backgroundsängerin bei Blue System, später als Moderatorin, Reality-TV-Gesicht und It-Girl. Ihre Biografie ist von medialer Sichtbarkeit durchzogen, aber selten von eigener Deutungshoheit geprägt. Der Versuch, mit dieser Autobiografie das eigene Narrativ zurückzuerobern, wirkt wie ein Akt der späten Selbstbehauptung.
Nach dem Bruch mit Bohlen versuchte sich Abd el Farrag in vielen Rollen: als Schauspielerin, DJane, Werbefigur und Schlagersängerin – vor allem in Österreich, wo sie mit Kurt Elsasser einige Charterfolge feiern konnte. Doch der Aufstieg erwies sich als instabil. Alkoholprobleme, finanzielle Not, gesundheitliche Krisen – all das trat zunehmend in den Vordergrund.
Schonungslos, aber nicht selbstmitleidig
„Achterbahn“ ist keine literarische Komposition, sondern ein streckenweise sprödes, manchmal hastiges, aber ehrliches Bekenntnis. Gemeinsam mit Co-Autorin Sybille F. Martin zeichnet Abd el Farrag ihre Lebenslinie nach – mit Fokus auf die Schattenzonen. Sie schreibt über ihre ADHS-Erkrankung, deren Symptome – Impulsivität, Konzentrationsschwäche, emotionale Überforderung – sich wie ein roter Faden durch ihr Leben ziehen. Sie benennt Alkohol als Betäubung und Flucht, aber nicht als Ausrede.
Es ist ein Text, der versucht, sich dem eigenen Versagen zu nähern, ohne es zu verklären. Abd el Farrag stilisiert sich weder zur Märtyrerin noch zur Kämpferin. Vielmehr bleibt der Ton nüchtern, fast abgeklärt – ein Eindruck, der stellenweise von sprachlicher Ungelenkigkeit begleitet wird, die der Glaubwürdigkeit aber keinen Abbruch tut. Die literarische Form mag schlicht sein, der Inhalt ist es nicht.
Öffentlichkeit als Risiko
Was in ihrer Autobiografie besonders auffällt, ist die ambivalente Haltung zur medialen Aufmerksamkeit. Auf der einen Seite steht die Sogwirkung des Ruhms, der Wunsch nach Gesehenwerden. Auf der anderen die tiefe Enttäuschung über eine Öffentlichkeit, die sie schnell idealisierte – und noch schneller fallen ließ. Boulevardjournalismus, Klatschpresse, Reality-TV – sie alle zeichneten ein Bild von Abd el Farrag, das zwischen Karikatur und Mitleidsfigur schwankte. Der Versuch, dieses Bild selbst zu korrigieren, ist vielleicht das tragende Motiv ihres Buches.
Dabei bleibt unklar, wie sehr sie selbst an diesem Bild mitwirkte – oder es schlicht ertrug. Ihre Rolle als „berühmte Ex“ wurde nie von einer eigenen, künstlerisch oder medial konsolidierten Identität abgelöst. Ihr öffentliches Dasein war reaktiv, nicht aktiv – ein Leben im Dauerkommentar, ohne eigene Stimme. „Achterbahn“ ist insofern auch ein verspäteter Versuch, diese Stimme zurückzuerlangen.
Zwischen Fragment und Vermächtnis
Nach ihrem Tod erhält dieses Buch eine neue, beinahe ungewollte Dimension. Es liest sich wie das Zeugnis einer Frau, die nicht wirklich wusste, wie man mit Öffentlichkeit umgeht – und auch nicht, wie man ihr entkommt. Es ist keine Autobiografie mit Happy End, kein glamouröses „Ich hab’s doch geschafft“-Narrativ, sondern ein melancholischer Lebensbericht mit offenen Wunden. Vielleicht ist es genau deshalb so berührend.
Nadja Abd el Farrags „Achterbahn“ ist kein literarisches Ereignis, aber ein wichtiges Zeitdokument. Es beschreibt ein Leben, das sich der öffentlichen Wahrnehmung nie ganz entziehen konnte – und daran zerbrach. Ihr Tod wirft ein neues Licht auf diesen Text, der nun wie ein stilles Vermächtnis wirkt: eine Warnung, ein Versuch der Selbstbeschreibung, ein letzter Blick hinter die Fassade.
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