Wer bei John Grisham automatisch an Gerichtssäle, Anwälte und Verschwörungen denkt, liegt auch mit seinem fünfzigsten Roman nicht ganz falsch. Doch Die Legende, erschienen 2025 im Heyne Verlag und ins Deutsche übertragen von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya, verlässt die gewohnten Pfade seines Justizkosmos und bewegt sich an einen Ort, an dem statt Paragraphen erst einmal Palmen rauschen: nach Dark Isle, eine düstere, halbvergessene Insel vor der Küste Floridas. Und obwohl auch hier am Ende prozessiert wird, geht es um sehr viel mehr – um Erinnerung, um Gerechtigkeit, um eine alte Frau, die sich nicht beugen will.
Der Widerstand der Lovely Jackson
Im Mittelpunkt steht Lovely Jackson, eine Figur, die sich nicht nur wegen ihres Namens einprägt. Als letzte Nachfahrin entflohener Sklaven lebt sie zurückgezogen auf jener Insel, auf der ihre Ahnen einst Zuflucht fanden. Doch Dark Isle soll jetzt touristisch erschlossen werden – Hotels, Golfplätze, Casinos. Der Staat Florida streitet Lovely das Eigentum ab und will die Insel dem Bauunternehmen „Tidal Breeze“ überlassen. Jackson wehrt sich. Zunächst mit einem selbst verfassten Buch, das kaum jemand liest, dann mit einem Anwalt und schließlich vor Gericht. Eine Legende – ein tödlicher Fluch über jeden weißen Eindringling – scheint ihr dabei unerwartete Schützenhilfe zu leisten. Denn die ersten, die die Insel betreten, kehren nicht mehr zurück.
Rückkehr nach Camino Island
Grisham greift in Die Legende Elemente seiner Camino Island-Reihe auf, bringt den gewieften Buchhändler Bruce Cable zurück ins Spiel und mit ihm die Autorin Mercer Mann. Letztere sucht eine neue Romanidee, findet Lovely Jackson und gleich eine ganze Geschichte. Gemeinsam mit dem Umweltanwalt Steven Mahon, der seine Karriere dem juristischen Kampf gegen Umweltzerstörung gewidmet hat, helfen sie Jackson im Kampf um ihr Recht – und gegen die schleichende Auslöschung einer Kultur.
Kein typischer Grisham, aber ein echter Erzähler
Trotz der juristischen Elemente ist Die Legende kein klassischer Thriller. Rückblenden und Auszüge aus Jacksons Manuskript unterbrechen den linearen Erzählfluss, sorgen für Tiefe und atmen die dunkle Geschichte eines verdrängten Kapitels amerikanischer Vergangenheit. Es sind die Geschichten geflohener Sklaven, von Schiffbrüchigen eines versunkenen Sklavenschiffes, von Gewalt, Enteignung – und von Widerstand.
Was Grisham hier anfasst, ist größer als die üblichen Rechtsstreitigkeiten, auch wenn der Roman am Ende wieder auf einem vertrauten Terrain endet: im Gerichtssaal. Aber der Weg dorthin ist ein anderer. Es geht nicht mehr nur um Rechtsfragen, sondern um das, was Recht einmal schützen sollte: Erinnerung, Geschichte, Würde.
Zwischen Thriller, Gesellschaftsroman und Metafiktion
Grisham spielt mit Formen. Die Schriftstellerin Mercer, die ein Buch über das Buch schreibt, das wir gerade lesen, dient nicht nur als Vermittlerin, sondern auch als selbstironischer Kommentar auf das eigene Schreiben. Dass sie ihre Studenten daran erinnert, Romane sollten nicht zu lang sein, liest man mit einem Lächeln – Die Legende hätte bei weniger Stoff sicher auch ein kürzeres Buch sein können. Doch Grisham verzichtet diesmal nicht auf die Umwege, die Nebenfiguren, die moralischen Grautöne.
Die Legende ist vielleicht nicht Grishams spannendster Roman – aber sein vielschichtigster seit Langem. Eine Geschichte über Enteignung und Entschlossenheit, über alte Schuld und neue Gier. Ein Roman über eine Insel, die nicht nur geographisch, sondern auch symbolisch steht für alles, was sich nicht einfach überbauen lässt.
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