Esther Dischereits Roman Ein Haufen Dollarscheine, erschienen im Maro Verlag (1. Edition, 4. Oktober 2024), entfaltet das Panorama einer zerrissenen Familie, deren jüdische Identität über verschiedene Länder und Generationen hinweg in Bewegung bleibt. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025, erzählt das Buch von den Nachkommen von Holocaust-Überlebenden, die zwischen den USA, Italien und Deutschland verstreut sind, gefangen zwischen Erinnerungen, Verlusten und institutionellen Hindernissen.
Im Zentrum steht eine Frau mit einem blumengemusterten Kleid – eine Überlebende, die sich ihrer Vergangenheit stellt. Um sie herum entfaltet sich eine Geschichte voller kafkaesker Bürokratie, in der jüdische Identität zum Streitpunkt wird: Ein verschwundenes jüdisches Grab auf einem christlichen Friedhof, ein jüdischer Friedhof, der Beweise für die Identität Verstorbener fordert, und die Verweigerung von „Wiedergutmachung“, die durch bürokratische Hürden und institutionelle Ignoranz unüberwindbar scheint.
Zentral sind auch die vielschichtigen Familiendynamiken: Eine Tante, die sich politisch engagiert, ein Neffe, der seine jüdische Identität durch Orthodoxie zu übererfüllen versucht, eine Mutter, die sich ihrer jüdischen Identität verweigert und von ihrem Sohn als „Closet-Jew“ bezeichnet wird. Dabei stehen sie in einer Flughafenlounge in Berlin und kreisen in ihren Gesprächen um die Geschichte ihrer Familie – eine scharfsinnige Inszenierung von Erinnerung und Identitätskonflikten.
Erzählstil und sprachliche Besonderheiten
Dischereits Sprache ist geprägt von einem fragmentarischen Erzählstil, der die Auswirkungen der Shoah literarisch verarbeitet. Die Erzählperspektiven wechseln zwischen Tante und Neffe, wodurch verschiedene Perspektiven auf jüdische Identität und Geschichte entstehen. Die Handlung bewegt sich nicht linear, sondern springt von 1942 bis in die Gegenwart und von Heppenheim über Chicago bis nach Managua.
Besonders auffällig ist das narrative Prinzip der Autorin: „Es will kein Bild entstehen“. Dischereit untergräbt bewusst jede Form von stringenter Erzählung und verweigert geschlossene Narrative, um die Zerbrechlichkeit der Erinnerungen zu betonen.
Die Sprache ist präzise und poetisch zugleich. Die Tonalität schwankt zwischen Melancholie, scharfzüngiger Satire und anklagender Ironie. Die Vergangenheit bleibt präsent, sie „steht wie in Schwaden“, löst sich nicht auf. Immer wieder setzt die Autorin starke Kontraste ein, etwa zwischen dem „schwarzen Amen“ eines palästinensischen Friedensgebets und dem „weißen Amen“ der Danksagung an den US-Präsidenten.
Dischereit arbeitet mit symbolischen Bildern und Metaphern: Die „blumengemusterte Frau“ verkörpert die gelebte Erinnerung der Shoah-Überlebenden, während Thanksgiving-Truthähne, die Gebete „verschlucken“, auf kulturelle Spannungen innerhalb der Familie verweisen.
Die Ironie zieht sich durch den gesamten Roman. Die absurden bürokratischen Diskussionen über jüdische Abstammungsnachweise, die grotesken Verhandlungen über Erbschaften und Wiedergutmachungszahlungen sind ebenso tragisch wie satirisch. Hier wird die Heuchelei einer Gesellschaft entlarvt, die Antisemitismus zwar bekämpfen will, aber zugleich jüdische Identität infrage stellt, wenn es um institutionelle Anerkennung geht.
Gesellschaftliche und politische Dimension
Ein Haufen Dollarscheine ist nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch ein Roman über die strukturellen Probleme in der deutschen Erinnerungskultur. Dischereit zeigt die bürokratische Gewalt, die jüdischen Überlebenden und ihren Nachkommen entgegenschlägt: Behörden verlangen Abstammungsnachweise für jüdische Beerdigungen, Banken verhindern die Auszahlung von Wiedergutmachungen, während die Gesellschaft sich in Selbstgewissheit über ihre historische Aufarbeitung wiegt.
Der Roman verknüpft Antisemitismus mit anderen gesellschaftlichen Kämpfen. Themen wie Kolonialismus, Rassismus und innerjüdische Hierarchien nach 1945 durchziehen das Buch. So zeichnet Dischereit ein breites Bild von Ungerechtigkeiten und gesellschaftlichen Machtstrukturen, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen.
Ein wichtiges Buch
Mit Ein Haufen Dollarscheine legt Esther Dischereit einen eindrucksvollen Roman vor, der mit großer sprachlicher Finesse und kluger Ironie die Nachwirkungen der Shoah aufzeigt. Die Erzählstruktur spiegelt die Brüche und Ungewissheiten jüdischer Identität wider, ohne einfache Antworten zu liefern.
Das Buch ist herausfordernd, unbequem, manchmal beklemmend – und gerade deshalb so wichtig. Wer sich für jüdische Geschichte, Identität und die gesellschaftlichen Verwerfungen nach der Shoah interessiert, sollte diesen Roman unbedingt lesen.
Über die Autorin
Esther Dischereit gehört zu den bedeutendsten literarischen Stimmen unter den Nachkommen von Shoah-Überlebenden in Deutschland. Ihr Werk umfasst Prosa, Lyrik, Essays sowie Theater- und Hörstücke. Zu ihren bekanntesten Büchern zählen Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte und Übungen jüdisch zu sein. Ihre Arbeiten setzen sich intensiv mit jüdischer Identität, Erinnerungskultur und gesellschaftlicher Verantwortung auseinander. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter 2009 der Erich-Fried-Preis. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrte sie unter anderem an der Universität für angewandte Kunst in Wien und war 2019 als DAAD Chair in Contemporary Poetics an der New York University tätig.
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