Kritische Auseinandersetzung mit „Wenn Israel fällt, fällt auch der Westen“ von Giuseppe Gracia
Giuseppe Gracias Buch Wenn Israel fällt, fällt auch der Westen ist kein analytischer Diskurs über die geopolitische Lage im Nahen Osten – es ist ein Statement. Eine klare, eindringliche Warnung, die Israel als Bollwerk des Westens betrachtet und seinen Fall als Katastrophe für die gesamte westliche Welt beschreibt.
Dass das Buch in eine Richtung argumentiert, zeigt schon das Vorwort von Henryk M. Broder, der schreibt:
„Was passiert, wenn Israel fällt? Die Frage, um die es in diesem Buch geht, ist so grauenhaft, so unerträglich, dass man sie nicht zulassen möchte, aber es muss sein. Auf dem Spiel steht unsere Freiheit, unsere Demokratie.“
Mit dieser Aussage wird bereits der Ton des Buches gesetzt: Es geht nicht um eine vielschichtige Analyse des Nahostkonflikts, sondern um eine dramatische Zuspitzung. Freiheit und Demokratie werden hier direkt mit der Existenz Israels verknüpft – ein Gedanke, der bei genauer Betrachtung problematisch ist. Denn so wichtig Israel geopolitisch sein mag, so kann man nicht übersehen, dass westliche Demokratien auf weit mehr Säulen ruhen als nur auf der Verteidigung dieses einen Staates.
Erschienen ist das Buch bei Fontis im Januar 2025.
Ein Staat, ein Volk – eine fragwürdige Gleichsetzung
Giuseppe Gracia, ein schweizerisch-spanischer Publizist und Schriftsteller, ist für seine provokanten Thesen bekannt. Seine Argumentation in diesem Buch baut auf einer wiederkehrenden Annahme auf: Israel ist nicht nur ein Staat, sondern ein Symbol für das jüdische Volk. Sein Untergang wäre gleichbedeutend mit einer weltweiten Katastrophe für die Juden und für den Westen.
Diese Argumentation setzt voraus, dass Staat und Volk untrennbar miteinander verbunden sind. Doch das ist eine problematische Gleichsetzung:
- Nicht jeder Jude ist Israeli. Das jüdische Volk existiert unabhängig von einem Staat. Israel ist ein wichtiger Bezugspunkt, aber es gibt jüdisches Leben überall auf der Welt.
- Nicht jeder Israeli ist Jude. In Israel leben auch arabische und drusische Staatsbürger, die nicht Teil des jüdischen Volkes sind.
- Ein Staat ist eine politische Einheit, kein religiöser oder ethischer Absolutismus. Ein Staat trifft politische Entscheidungen, die kritisch hinterfragt werden dürfen – so wie jede andere Regierung auf der Welt.
Antisemitismus ist ein reales Problem, das es weltweit zu bekämpfen gilt. Doch Kritik an der israelischen Politik ist nicht dasselbe wie Antisemitismus. Gracia lässt diese Differenzierung weitgehend außer Acht. Wer Kritik an Israel äußert, läuft in seiner Logik schnell Gefahr, als Feind des Westens dargestellt zu werden.
Religiöse Deutung – Politik als göttliche Prüfung?
Besonders auffällig ist Gracias Verbindung von Politik mit religiösen Motiven. Er argumentiert nicht nur geopolitisch, sondern auch spirituell. Für ihn ist Antisemitismus nicht nur eine gesellschaftliche oder historische Realität, sondern etwas, das tief in einer metaphysischen Rebellion gegen Gott wurzelt. Er schreibt:
„Der Hass auf Juden könnte etwas mit Gott zu tun haben. Genauer gesagt, könnte der Hass auf Juden darauf hinweisen, wie der Antisemit zu Gott steht. Vielleicht ist dieser Hass nur an der Oberfläche auf Juden gerichtet, aber in der Tiefe auf Gott selbst.“
Diese Argumentation vermischt Religion und Politik auf eine Weise, die den Konflikt emotionalisiert und ihn in ein Gut-Böse-Schema drängt. Hass auf Juden ist zweifellos eine abscheuliche und menschenverachtende Ideologie. Doch ihn in eine metaphysische Dimension zu heben, bedeutet, politische Ursachen und gesellschaftliche Mechanismen auszublenden.
Antisemitismus muss bekämpft werden – aber nicht mit religiösen Deutungen, sondern mit Bildung, Aufklärung und politischem Handeln.
Angst statt Lösung
Das Buch hat eine klare Agenda: Es soll aufrütteln. Doch es arbeitet nicht mit analytischer Tiefe, sondern mit Untergangsszenarien. Gracia warnt:
„Wenn der Westen erlaubt, dass der Antisemitismus weiter zunimmt und die Feinde Israels wachsen, ja, wenn der Westen mitsamt den USA erlauben, dass der heutige Staat Israel keine Hilfe mehr bekommt und geopolitisch isoliert wird, sodass es sogar möglich wäre, dass der heutige Staat Israel eines Tages zu Fall käme, dann wäre dies zugleich das Ende des Westens selbst.“
Diese Sichtweise blendet aus, dass Politik nicht nur aus Loyalitäten besteht, sondern aus Interessen, aus Diplomatie und aus Verhandlungen. Der Westen ist kein monolithischer Block, dessen Schicksal ausschließlich an Israel hängt. Die USA, die EU, die NATO – sie alle agieren nach strategischen Überlegungen. Israel ist ein wichtiger Partner, aber nicht die einzige Säule westlicher Stabilität.
Gleichzeitig fehlt dem Buch ein Blick auf Lösungen. Was könnte der Westen tun, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen? Wie könnte eine diplomatische Strategie im Nahen Osten aussehen, die für alle Beteiligten Sicherheit und Frieden bringt? Diese Fragen werden nicht gestellt – stattdessen setzt das Buch auf eine „Alles oder nichts“-Mentalität.
Ein eindringliches Buch
Wenn Israel fällt, fällt auch der Westen ist ein emotionales Buch mit einer klaren Haltung: Israel muss bedingungslos unterstützt werden, denn sein Schicksal entscheidet über den Westen.
Gracia schreibt leidenschaftlich, aber seine Argumentation ist eindimensional. Er vermischt Religion mit Politik, setzt Antisemitismus mit jeder Form von Israelkritik gleich und malt ein dramatisches Bedrohungsszenario, das wenig Raum für Zwischentöne lässt.
Wer ein Buch sucht, das klar Position bezieht, findet hier ein kämpferisches Plädoyer für Israel.
Der Autor:
Giuseppe Gracia (*1967) ist ein schweizerisch-spanischer Publizist, Schriftsteller und Kommunikationsberater. Seine Bücher und Essays beschäftigen sich häufig mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Themen, oft aus einer provokativen oder konservativen Perspektive. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist er regelmäßiger Autor für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) sowie für deutsche Medien wie Focus Online und Welt.
Werke (Auswahl):
- Auslöschung (2024)
- Schwarzer Winter (2023)
- Die Utopia-Methode (2022)
- Der Tod ist ein Kommunist (2021)
- Wenn Israel fällt, fällt auch der Westen (2023)
Gracia ist für seine klare, oft polarisierende Sprache bekannt und greift in seinen Texten politische, kulturelle und religiöse Themen auf. Sein Werk bewegt sich häufig an der Schnittstelle zwischen Literatur, politischem Kommentar und Medienkritik.
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