Der Roman „Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann wurde von der SWR-Bestenliste als Buch des Jahres 2024 ausgezeichnet. Die Jury, bestehend aus 30 Literaturkritikern, würdigte das Werk als außergewöhnlichen Beitrag zur literarischen Aufarbeitung von Geschichte, Genozidforschung und individueller Erinnerungskultur. Der Titel bezieht sich auf den 74. Völkermord an den Jesiden im Jahr 2014 durch die Terrororganisation IS, ein Ereignis, das durch die literarische Verarbeitung greifbarer gemacht werden soll.
Darüber hinaus fand der Roman auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024Anerkennung. Diese zusätzliche Würdigung unterstreicht die literarische Qualität und gesellschaftliche Relevanz des Werkes und macht es zu einem der herausragenden Titel des Jahres.
Hintergrund und Thematik
Othmanns Roman thematisiert die Verfolgung und das Leid der Jesiden, einer religiösen Minderheit, die über Jahrhunderte hinweg Diskriminierung und gewaltsame Übergriffe erleiden musste. Das Buch versteht sich als literarisches Zeugnis, das historische Ereignisse mit persönlicher Erinnerung verknüpft. Othmann, deren Vater jesidisch-kurdischer Herkunft ist, greift auf familiäre Geschichten zurück, um die Tragweite des Genozids zu verdeutlichen.
Das Werk geht weit über die bloße Erzählung hinaus und untersucht die Folgen von Flucht, Verlust und Identitätskonflikten. Die Hauptfigur dient dabei als Medium, durch das die Autorin sowohl kollektive Traumata als auch individuelle Fragestellungen zu Heimat und Zugehörigkeit aufgreift. Die narrative Struktur verbindet essayistische Passagen mit erzählerischen Rückblicken, wodurch das Buch eine einzigartige Vielschichtigkeit erhält.
Inhaltsüberblick
Othmann schildert im Roman sowohl die historische Dimension des Genozids als auch die langfristigen Folgen für die Überlebenden und ihre Nachfahren. Die Erzählerin begibt sich auf eine Reise zwischen den Orten ihrer Herkunft und den neuen Lebenswelten, die durch Flucht erzwungen wurden. Dabei pendelt die Handlung zwischen den leeren Dörfern Nordsyriens, den Flüchtlingslagern und deutschen Gerichtssälen, in denen ehemalige IS-Täter zur Verantwortung gezogen werden.
Die Hauptfigur ist dabei nicht nur Chronistin des Geschehens, sondern hinterfragt auch die eigenen Privilegien und die Rolle als Vermittlerin einer Geschichte, die sich dem Verstehen oft entzieht. Ihre Reflexionen stehen im Zentrum des Romans und fordern die Leser dazu auf, sich mit Fragen von Verantwortung, Erinnerung und Gerechtigkeit auseinanderzusetzen.
Rezeption und Bedeutung
Die Jury der SWR-Bestenliste lobte „Vierundsiebzig“ für seine sprachliche Präzision und die durchdachte Perspektive. Besonders hervorgehoben wurde die Selbstreflexion der Erzählerin, die angesichts der erdrückenden Thematik neue narrative Ansätze sucht. Die Verbindung von dokumentarischen Elementen und literarischer Verarbeitung schafft einen Text, der als literarischer Meilenstein für die Auseinandersetzung mit dem jesidischen Genozid gelten kann.
Die Jury betonte außerdem die Relevanz des Romans in einer Zeit, in der Fragen zu Migration, Gerechtigkeit und kollektiver Erinnerung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Mit ihrer klaren und präzisen Sprache gelingt es Othmann, komplexe historische Zusammenhänge auch für Leser zugänglich zu machen, die mit der Thematik bisher nicht vertraut waren.
Die SWR-Bestenliste und das Buch des Jahres
Die SWR-Bestenliste ist eine seit 1975 monatlich erscheinende Empfehlungsliste für literarische Neuerscheinungen. Sie wird von einer Jury aus 30 renommierten Literaturkritikern zusammengestellt, die auf Basis ihrer Expertise Werke auszeichnen, die durch literarische Qualität und Relevanz überzeugen.
Das Konzept der Bestenliste hat sich über die Jahre als Inspiration für weitere vergleichbare Formate etabliert. So startete 2003 die ORF-Bestenliste in Österreich, und 2022 folgte die SRF-Bestenliste in der Schweiz. Alle drei Formate verfolgen das Ziel, Lesern eine Orientierung im breiten Angebot literarischer Neuerscheinungen zu bieten, indem sie qualitativ herausragende Werke sichtbar machen.
Voraussetzung für die Wahl zum Buch des Jahres ist eine Platzierung auf einer der monatlichen Listen des jeweiligen Jahres.
Neben Othmanns Roman wurden in diesem Jahr Werke von bekannten Autoren wie Clemens Meyer, Wolf Haas , Agi Mishol, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Paul Lynch, George Saunders, Percival Everett, Marlen Haushofer und Marion Poschmann nominiert, die ebenfalls auf der Longlist vertreten waren.
Die Wahl von „Vierundsiebzig“ als Buch des Jahres unterstreicht die Bedeutung literarischer Auseinandersetzungen mit historischen und aktuellen Themen. Die undotierte Auszeichnung versteht sich als Anerkennung für Autoren, deren Werke durch literarische Qualität und gesellschaftliche Relevanz herausragen.
Die Autorin
Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren. Ihre familiären Wurzeln reichen nach Syrien, in das jesidisch-kurdische Siedlungsgebiet, aus dem ihr Vater stammt. Ihre Jugend war geprägt von Besuchen in den Dörfern, die inzwischen größtenteils verlassen sind. Diese Erfahrungen fließen nicht nur in ihren aktuellen Roman, sondern auch in ihr literarisches Gesamtwerk ein.
Bereits mit ihrem Debüt „Die Sommer“ machte Othmann auf sich aufmerksam. Darin verarbeitete sie ebenfalls Themen wie Flucht, Identität und kulturelle Zerrissenheit. „Vierundsiebzig“ setzt diesen Ansatz fort und verleiht ihrer Stimme durch den Fokus auf den jesidischen Genozid eine neue Dringlichkeit.
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