Kolchis – ein Kurort für Zeitreisende, ein Wartesaal unter einer Glocke, abgeschirmt von Raum und Geschichte. Franz Friedrichs Roman Die Passagierin führt an einen Ort, der einst als Zuflucht für Menschen diente, die aus ihrer jeweiligen Epoche evakuiert wurden: aus dem Mittelalter, aus den Weltkriegen, aus der DDR der 1990er Jahre. Heather Hopemann ist eine von ihnen. Als Jugendliche wurde sie nach Kolchis gebracht, um einem unbestimmten Schicksal zu entkommen. Jahre später kehrt sie dorthin zurück – auf der Suche nach etwas, das sich nicht benennen lässt, aber geblieben ist.
Verlorene Zeit, gesicherter Raum
Das einstige Rettungsprogramm ist beendet, die Sanatorien verfallen, die Verwaltung verschwunden. Geblieben sind Menschen wie Heather, die versuchen, mit dem zu leben, was ihnen geschenkt oder genommen wurde. Sie leidet unter „Phantomerinnerungen“, Bildern eines Lebens, das nicht war – aber nachwirkt. Der Roman fragt nicht, wie Zeitreisen funktionieren, sondern was es bedeutet, seiner Zeit entrissen zu werden.
Friedrich beschreibt Kolchis als einen Ort, der mehr Zustand als geographischer Punkt ist – wie ein utopisches Ellis Island, das nicht den Aufbruch, sondern das Abwarten organisiert. Die Evakuierten leben nebeneinander, doch eine gemeinsame Zeit entsteht nicht. Erinnerungen, Sprache und Werte bleiben fragmentarisch. So wird Kolchis zu einem Raum der Schwebezustände – in seiner Funktion, in seiner Ästhetik, in seiner Symbolik.
Szenen wie aus einem Film
Schon die erste Ankunft Heathers zeigt exemplarisch, wie Friedrich Atmosphäre erzeugt. Der Bahnhof ist leer, der Regen „des Fallens überdrüssig“, das Schild der Station blinkt stoisch vor sich hin. Kinder bedienen die Kurbahn, ein Mädchen spielt mit einem Telefon ohne Schnur – eine Szene, die mehr erzählt als jeder erklärende Absatz. Friedrich schildert nicht einfach, sondern stellt Bilder in den Raum, in denen das Bekannte fremd wird und das Absurde mit dem Alltäglichen verschmilzt.
Die Orte, durch die Heather wandert – vom Kurpark bis zum Gärtnerhaus, vom Sanatorium bis zum Haus der Wissenschaften – sind Utopieruinen, getragen von einer Ästhetik des Verfalls. Selbst die Tiere wirken deplatziert, die Menschen seltsam beschäftigt. Es gibt keine Ordnung mehr, nur Rituale, die keiner Notwendigkeit mehr folgen. Der Ort wirkt wie ein Echo auf frühere Ordnungen – die sich selbst überlebt haben.
Matthias und die Ethik der kleinen Ideen
Besonders eindrücklich ist die erste Begegnung mit Matthias – ein Söldner aus dem 16. Jahrhundert, der sich mit einem defekten Golfmobil im Regen abmüht. Ihre gemeinsame Wegstrecke wird zu einem dichten Gespräch über Regenschirme, Fortschritt und verpasste Möglichkeiten. Matthias sieht im Schirm das Symbol einer anderen Zukunft – eine, die weniger von Gewalt, sondern von klugen Einfällen geprägt ist.
Dass Regenschirme in seiner Zeit bereits existierten, aber nicht genutzt wurden, ist für ihn keine technische Anekdote, sondern eine ethische Frage: Hätte man das Wissen genutzt, hätte man Leid vermeiden können. Dieser Gedanke durchzieht den ganzen Roman – nicht als moralischer Zeigefinger, sondern als stilles Grundrauschen.
Phantomerinnerungen und Identitätssplitter
Heather leidet unter Erinnerungen an Dinge, die sie nie erlebt hat – ein Hund auf einem verschneiten Parkplatz, ein Kind, das etwas verliert, ein leuchtendes Schwimmbecken. Friedrich beschreibt diese Bilder mit bestechender Klarheit, aber auch mit einem tiefen Sinn für ihre Fragilität. Sie wirken wie Szenen aus einem Film, in den man zu spät eingestiegen ist. Das Ich der Erzählerin ist brüchig – nicht pathologisch, sondern durchlässig, fragmentiert.
Diese „hypnagogen“ Bilder – wie sie kurz vor dem Einschlafen entstehen – sind keine bloßen Traumreste, sondern Ausdruck einer Identität, die sich nicht mehr an einer linearen Biografie orientiert. Kolchis ist der richtige Ort für solche Figuren: ein Zwischenraum, in dem weder Vergangenheit noch Zukunft Orientierung bieten.
Ruhig, aber nicht beliebig
Die Passagierin ist kein Roman der Handlung. Vieles besteht aus Gesprächen, Erinnerungen, Spaziergängen. Friedrichs Stil bleibt ruhig, oft elliptisch. Der Rhythmus seiner Sprache ist bewusst langsam. Nicht alles wird erklärt, vieles bleibt offen. Kolchis ist ein Ort der Übergänge – weder klarer Schauplatz noch abgeschlossene Erzählwelt.
Der Autor denkt darüber nach, ob Herkunft auch zeitlich bestimmt ist. Treffen Menschen aus verschiedenen Epochen aufeinander, begegnen sie sich dann auf Augenhöhe – oder bleibt jeder Gefangener seiner Zeit? Kolchis wird zum Versuchslabor dieser Frage. Moral erscheint hier nicht als feste Größe, sondern als etwas, das sich wandelt – und sich mit anderen Erfahrungen reibt.
Ein forderndes, lohnendes Buch
Nicht alle werden mit diesem Roman glücklich. Wer eine klassische Handlung, Spannung oder ein klares Ziel sucht, wird hier wenig finden. Aber wer Literatur als Raum für Nachdenklichkeit und Resonanz versteht, entdeckt viel: stille Szenen, fragmentierte Biografien, Fragen ohne eindeutige Antworten.
Die Passagierin ist ein leises, aber genaues Buch. Es nimmt seine Figuren ernst – und auch seine Leser:innen. Wer bereit ist, sich auf den Rhythmus dieser Welt einzulassen, wird nicht enttäuscht, sondern beschenkt – mit einem Roman, der sich Zeit nimmt, um etwas zu sagen, das nicht laut ausgesprochen werden kann.
Über den Autor Franz Friedrich:
Franz Friedrich, geboren 1983 in Frankfurt (Oder), lebt in Berlin. Studium der Experimentalfilm an der UdK Berlin, Abschluss am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Debütroman Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr (2014), ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung. Die Passagierin stand 2024 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.