Wenn in Berlin ein Teenager verschwindet und kurz darauf die Mutter tot aufgefunden wird – mit entnommenem Auge–, weiß die Stadt: Der Täter hat wieder zugeschlagen. Er lässt dem Vater 45 Stunden Zeit, das Kind zu finden. Danach verstummt jede Hoffnung. Sebastian Fitzek baut in „Der Augensammler“ aus diesem Countdown ein Psychospiel voller Wahrnehmungsfallen. Vorneweg: Im Zentrum stehen Alexander Zorbach, ehemaliger Polizist und nun Reporter, sowie die blinde Masseurin Alina Gregoriev, die behauptet, den Täter als Patienten behandelt zu haben. Ausgerechnet eine Frau, die nicht sieht, soll den Killer erkennen – das ist mehr als ein Thrill-Kunstgriff; es ist das Leitmotiv des Romans.
Der Augensammler Sebastian Fitzek – 45 Stunden, ein Killer mit Ritual und zwei Ermittler, die ihre eigenen Geister kennen
Inhalt & Zusammenfassung von „Der Augensammler“
Berlin gerät in Atemnot. Der „Augensammler“ tötet Mütter, setzt den Vätern ein Zeitfenster und hinterlässt Spuren – oder etwas, das wie Spuren aussieht. Alexander Zorbach verfolgt den Fall journalistisch, aber seine Vergangenheit (ein gescheiterter Einsatz) und sein impulsiver Stil lassen ihn immer wieder Grenzen überschreiten. Als Alina Gregorievauftaucht, verschiebt sich die Ermittlung: Sie ist überzeugt, der Mörder habe sich unter einem falschen Namen von ihr behandeln lassen; ein vergessenes Detail, ein Geruch, ein Körperzeichen – alles kann Schlüssel sein. Zorbach nimmt sie ernst, weil er muss: Zu viele Puzzleteile wirken konstruiert, zu viel passt zu gut.
Der Killer spielt die Öffentlichkeit gegen die Behörden aus. Hinweise landen in Redaktionen, Foren, Funksprüchen. Zorbach gerät durch eine geschickte Rahmung selbst ins Visier – ein Teil der Indizienkette weist plötzlich auf ihn. Während die Uhr läuft, nehmen Zorbach und Alina die Playlist der ritualisierten Taten auseinander: Tatorte, Symbolik, die Wahl der Opfer, das Kalendertempo. Die Suche führt sie in Wohnungen, Studios, Keller; in Beziehungen, die an Schuld und Scham kranken; und in die Frage, ob der eigentliche Plan des Täters nicht bloß die Kinder, sondern auch die Erzähler dieser Stadt betrifft: Polizei und Presse. Die Auflösung bleibt hier außen vor; entscheidend ist, dass Fitzek das Rätsel logisch schließt – und bis dahin jede Gewissheit mehrfach kippt.
Themen & Motive – Sehen und Nicht-Sehen, Schuld und Show, Ordnung und Zufall
Blindheit als Erkenntnismodell
Alina Gregoriev ist die klügste Entscheidung des Romans. Ihre Blindheit produziert nicht das gängige Klischee des „übersinnlichen Blicks“, sondern eine andere Aufmerksamkeit: Haptik, Stimmen, Bewegungsgeräusche, Routinen. Fitzek spiegelt daran das Leitmotiv: In einer Welt, die angeblich alles sieht, übersieht man das Wesentliche oft mit Absicht.
Countdown als Ethik-Test
45 Stunden sind nicht nur Plottempo, sondern moralischer Hebel: Wie handeln Eltern, wenn jede Minute teuer ist? Wem vertraut man, wenn jede falsche Kooperation Zeit frisst? Der Roman zwingt Figuren und Leser, Entscheidungen unter Druck zu bewerten – und zeigt, wie Täternarrative solche Druckkessel kalkulieren.
Medienlogik vs. Wahrheit
Zorbachs Doppelrolle als Ex-Cop und Reporter macht die Medienebene konkret. Presse kann Scheinaufklärung produzieren – schnelle Klicks, dünne Indizien – oder Druck erzeugen, der Ermittlungen beschleunigt. Fitzek deklamiert nicht; er zeigt Konsequenzen: Informationslecks, öffentliche Vorverurteilung, der gefährliche Reiz von Täter-Marken.
Körper, Kontrolle, Ritual
Die entnommenen Augen sind brutale Signatur. Der Tabubruch sitzt so tief, weil das Auge für Identität steht. Der Killer verhandelt Macht als Kontrolle über Blicke: Wer darf wen sehen und definieren? Genau dagegen arbeitet die Allianz Zorbach/Gregoriev – mit Hören, Tasten, Deuten.
Familie als Bruchstelle
Die Opferauswahl – Mütter, Kinder, Väter – legt den Finger auf Beziehungsnähte. Der Roman nutzt das nicht, um Parent-Angst auszubeuten, sondern um die moralische Geografie eines Falls freizulegen: Private Entscheidungen haben öffentlich Folgen, wenn jemand sie zur Bühne macht.
Der Reiz des True-Crime-Scheins
„Der Augensammler“ erschien lange bevor Podcasts und Streams True Crime endgültig ins Pop-Hauptprogramm schoben – und liest sich heute fast hellsichtig. Der Täter kalkuliert mit Aufmerksamkeit; Ermittlungen werden Teil eines Medienformats. Die Geschichte zeigt, warum wir auf Fälle anspringen, die eine Story anbieten (Ritual, Countdown, Signatur), und wie gefährlich diese Narrativierung sein kann. Gleichzeitig liefert der Roman eine alltagstaugliche Lehre: Verifizieren schlägt Hypothese. Erst prüfen, dann posten – ob im Krisenmodus oder im Couch-Chat.
Rückwärtszählung, kurze Kapitel, echte Cliffhanger
Fitzeks Prosa arbeitet mit Schnitttechnik: Szenen beginnen mitten in der Bewegung, enden auf semantischen Kuppen. Die Kapitel sind kurz, oft eine Seite; der Effekt: Atemnot ohne Hektik. Ein hübscher formaler Kniff (den man beim Lesen sofort merkt): Die Zählung läuft rückwärts – der Text organisiert sich wie das Ultimatum selbst. Dialoge tragen Exposition, Innensichten setzen emotionale Marker; Gewaltbilder sind hart, aber nicht ausschweifend – der Fokus liegt auf Wahrnehmung und Entscheidung.
Für wen eignet sich der Thriller?
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Für Leser, die Rätselspannung mit psychologischer Schlagseite lieben.
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Für Fans von Ermittlerduos, bei denen die Partnerschaft keine Buddy-Komödie, sondern ein funktionierender Gegenentwurf zum Täter ist.
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Für Buchclubs, die über Medienethik, Elternverantwortung und Täternarrative diskutieren möchten.
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Weniger geeignet, wenn ausschließlich forensische Detailtiefe oder polizeiliche Prozeduren erwartet werden; der Roman bleibt figurenzentriert.
Stärken und mögliche Schwächen
Stärken
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Konzept mit Mehrwert: Countdown + Blindenfigur ergibt nicht nur Tempo, sondern Thema (Sehen vs. Erkennen).
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Spannungsmanagement: Kurze Kapitel, strenger Takt, echte Twists, die rückblickend logisch halten.
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Medienreflexion: Ohne Vorlesefinger zeigt der Roman, wie Öffentlichkeit Fälle beschleunigen und verzerren kann.
Mögliche Schwächen
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Konstruktion sichtbar: Manche Zufälle und Zusammentreffen wirken arrangiert – genretypisch, aber spürbar.
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Reiz der Signatur: Die Augen-Thematik ist heftig; wer empfindlich auf Körperverletzung reagiert, wird die Lektüre als Belastung empfinden.
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Figurenklischees im Umfeld: Nebenrollen (Medien, Nebenermittler) sind teils funktional gezeichnet, nicht tief.
So liest man den Fall klüger
A) „Was wäre meine nächste richtige Frage?“
Der Thriller zeigt, wie gute Fragen Zeit sparen: nicht „Wer war’s?“, sondern „Was will der Täter, welche Information versucht er zu kontrollieren?“. Diese Logik hilft auch außerhalb der Fiktion – in Meetings, Krisen, Familiengesprächen.
B) Mikrospuren wahrnehmen
Alinas Methode: Stimme, Pausen, Gehgeräusch, Geruch. Wer die Lektüre als Spiel liest, entdeckt, wie viel nonverbalan uns vorbeiläuft – und warum „Beweise“ mehr sind als Bits.
C) Medienkompetenz
Wenn ein Fall auf Social Media „mitermittelt“ wird, zählen Quelle, Kontext, Zeit. Der Roman ist ein gutes Anlassbuch, um die eigene Verifizier-Routine zu prüfen.
Über den Autor – Sebastian Fitzek (kurz & prägnant)
Sebastian Fitzek (1971, Berlin) studierte Rechtswissenschaften, arbeitete als Radioredakteur und Programmdirektorund veröffentlichte 2006 mit „Die Therapie“ seinen Debütroman. Seither zählt er zu den erfolgreichsten Thrillerautoren Europas. Seine Bücher sind für High-Concept-Ideen bekannt (Countdowns, Wahrnehmungsspiele, mediale Spiegelräume) und setzen auf hohes Tempo, kurze Kapitel und überraschende Wendungen. Mit Projekten wie „Playlist“ experimentiert Fitzek außerdem mit transmedialen Formaten (echte Songs zum Buch). Viele Romane liegen als Hörbücher vor und wurden in mehrere Sprachen übersetzt; diverse Stoffe sind für Film/Serie optioniert oder adaptiert.
Ein Pageturner mit echtem Thema unter der Oberfläche
„Der Augensammler“ ist mehr als Schockästhetik. Der Roman zeigt, wie Blicke Macht sind – und wie leicht sich Öffentlichkeit in die Rolle des Komplizen drängen lässt, wenn ein Täter die Regie übernimmt. Der Countdown treibt, die Blindheits-Perspektive erdet, die Medienebene spiegelt unsere Gegenwart. Wer einen schnellen, aber nicht leerenPsychothriller sucht, kommt hier auf seine Kosten. Und wer nach dem letzten Dreh noch Kraft hat, greift zum „Augenjäger“ – nicht, weil man muss, sondern weil man will.
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