Institut für gute Mütter von Jessamine Chan – Wenn Fürsorge zur Prüfung wird

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Philadelphia, nahe Zukunft: Eine übermüdete Mutter macht einen Fehler, der Millionen schon einmal passiert ist – nur diesmal beobachtet es der Staat. „Institut für gute Mütter“ (Original: The School for Good Mothers) von Jessamine Chan erzählt von Frida Liu, deren „ein sehr schlechter Tag“ zur Systemprüfung wird: Sorgerechtsentzug, ein Jahr in einer Einrichtung mit KI-Kindern und der kalten Grammatik von Punktetabellen. Der Roman ist Bestseller, Read-with-Jenna-Clubwahl und Obama-Liebling 2022; die deutsche Ausgabe erschien am 30. März 2023 bei Ullstein(Übersetzung: Friederike Hofert). Das klingt nach Dystopie – und trifft dennoch das Alltagsherz moderner Elternschaft.

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Institut für gute Mütter: Roman | Dystopisch, aber zeitgeisty: dieser New-York-Times-Bestseller begeistert nicht nur Barack Obama

Handlung von „Institut für gute Mütter“

Frida, promovierte Redakteurin und Tochter chinesischer Einwanderer, lebt getrennt vom Vater ihrer Tochter Harriet. Überarbeitet, erschöpft, einsam – dann der Fehler: Frida lässt die 18-monatige Harriet allein zu Hause. Nachbarn rufen die Polizei, Jugendamt/CPS greift durch, das Sorgerecht wandert vorläufig zum Vater. Um die Rückführung zu „verdienen“, bekommt Frida die Alternative zur endgültigen Trennung: ein Jahresprogramm in einem staatlich betriebenen „Institut“. Hier lernen „schlechte“ Mütter, gut zu sein – vermessen durch Kameras, Sensoren und die Reaktionen lebensechter Roboter-Kinder, die jeden Blick, jede Umarmungssekunde, jede Tonlage protokollieren. Die Übungen reichen von Tröstritualen über Grenzsetzung bis zu „affirmative statements“ – alles quantifiziert, alles auswertbar. Parallel existiert ein Väter-Institut, merklich lascher geführt. Das Ziel: ein Score, der den Wiedereinstieg in die Familie erlaubt – oder verwehrt. (Der Roman betont die beklemmende Plausibilität: ehemaliger College-Campus als „Schule“, KI-Kinder als Messinstrumente.)

Frida ist nicht heilig – Chan schreibt sie bewusst ambivalent: klug, liebevoll, aber auch stur, verletzbar, manchmal blind. Gerade deshalb funktioniert die Figurenprüfung: In einer Welt, in der mütterliche Liebe nicht nur sichtbar, sondern messbar „richtig“ sein muss, kämpft Frida um Harriet – und um Selbstachtung. Mehr verraten wir nicht; wichtig ist, dass die Auflösung konsequent zur Logik der Institution passt und lange nachhallt.

Überwachung, Care, Rassifizierung

Mutterschaft als Leistungskatalog: Chan zerlegt die Fantasie, „gute“ Elternschaft ließe sich standardisieren. Algorithmisch ausgewertete Hugs-pro-Minute, Tonfallkurven, Mikroverstöße – das Buch zeigt eine Kultur, die Gefühle normiert, statt Bindung zu verstehen.

Staatliche Fürsorge vs. Kontrolle:Das Institut spricht Empathie, praktiziert aber Strafe. Die Insassinnen marschieren in Uniformen, rezitieren Bekenntnisse, werden paramilitärisch sortiert. Das ist satirisch zugespitzt – und doch erschreckend plausibel, weil reale Jugendhilfepraxis, Datenhunger und Behavior-Scoring bereits existieren.

Rassismus & Klassismus: Wer sitzt in dieser „Schule“? Überproportional arme und nicht-weiße Frauen. Frida wird mal als „zu chinesisch“ (emotional „kühl“), mal als „nicht chinesisch genug“ gelesen – ein Blick auf Bias, der still und präzise wirkt.

Online-Ich vs. Offline-Ich: Avatare gibt es hier nicht, nur Aktennotizen. Jede Abweichung von der Norm wird zur Identität erklärt. Das Buch fragt: Wie viel Privatheit bleibt, wenn Optimierung Standard ist?

Warum dieser Roman heute brennt

Institut für gute Mütter erscheint in einer Zeit, in der Plattform-Metriken und Erziehungsratgeber den Takt vorgeben. Der Roman liefert dazu keinen Shitstorm, sondern eine Strukturkritik: Wenn Konzern- und Staatslogik gemeinsam auf Care blicken, entsteht ein Markt für „richtige“ Gefühle – inklusive Sanktionen. Dass das Buch zugleich breit rezipiertwurde (Bestseller, Read-with-Jenna, Obama-Liste) macht aus der Fiktion ein Gesprächsanstoß weit über Literaturkreise hinaus.

Kühle Präzision, hitzige Wirkung

Chan schreibt klar, knapp, beobachtend – selten pathetisch, oft messerscharf. Die Dramaturgie folgt dem Lehrplan der Institution: Module, Tests, Feedback-Schleifen. Das liest sich atemlos, weil jede Szene wie ein Audit funktioniert. Die KI-Kinder sind erzählerisch grandios: Als Plotmotor und Symbol zugleich machen sie sichtbar, was passiert, wenn Zuwendung zur Kennzahl wird. Kritiken nennen den Roman „infuriatingly timely“ und „remarkable“ – die Mischung aus Realismusherz und SF-Hülle sitzt.

Für wen eignet sich das Buch?

  • Für Leser, die Dystopie ohne Drachen wollen: gesellschaftsnah, plausibel, gnadenlos aktuell.

  • Für alle, die über Care-Arbeit, Elternschaft, Bias und Datenmacht diskutieren – im Buchclub oder Seminarraum.

  • Für Fans von Atwoods kritischer Tradition – nur weniger biblisch, dafür bürokratischer.

Stärken & Schwächen

Stärken

  1. Konzept mit Konsequenz: Die Schule ist Welt und These zugleich – jedes Detail (Uniform, Language, Score) zahlt auf die Systemkritik ein.

  2. Figurenambivalenz: Frida ist fehlbar und liebenswert – dadurch vermeidet der Roman die Heiligsprechung und zwingt zum Mitdenken.

  3. Sprachökonomie: Präzise Prosa, die Atmosphäre und Alarm zugleich erzeugt; kein Gramm überflüssig.

Schwächen (je nach Lesetyp)

  1. Emotionaler Dauerstress: Wer Trost sucht, findet oft Machtkälte – das ist Absicht, kann aber ermüden.

  2. Satire-Härte: Manches wirkt „zu krass“, bis man die realen Bezüge erkennt – dieser Schmerzpunkt ist Teil der Wirkung, aber nicht jedermanns Sache.

  3. Weltenblick auf Mütter: Obwohl es eine Väter-Schule gibt, bleibt der Fokus stark auf Mütter – einige Leser wünschen sich mehr Symmetrie.

Ein Roman wie ein Sozialprotokoll

„Institut für gute Mütter“ ist kein Wohlfühltext, sondern ein Warnsystem. Er zeigt, wie schnell Fürsorge zur Kontrolle wird, wenn Macht und Metrik den Takt vorgeben – und dass Liebe sich nicht in Checklisten pressen lässt. Wer Literatur sucht, die diskutiert werden will, liegt hier goldrichtig. Und wer glaubt, es handle sich um reine Übertreibung, sollte die Schlagworte Risikoscoring und Bias in der Familie kurz googeln – die Wirklichkeit ist bereits näher an Chans Fiktion, als uns lieb sein kann.

Empfehlung: lesen – und anschließend darüber sprechen, wer eigentlich definiert, was „gute“ Elternschaft ist.

Über die Autorin – Jessamine Chan

Jessamine Chan ist eine US-Autorin mit Wurzeln in einer chinesischen Einwandererfamilie; sie lebt in Chicago. The School for Good Mothers war New-York-Times-Bestseller, Read-with-Jenna-Pick, stand auf Barack Obamas Lieblingsliste 2022 und war u. a. Finalistin für den NBCC John Leonard Prize und den Center for Fiction First Novel Prize, Longlist für PEN/Hemingway und die Carnegie Medal. Die deutsche Ausgabe erschien bei Ullstein(Übersetzung Friederike Hofert).

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