Guadalupe Nettels Roman Die Tochter verweigert sich jeder Form der Beschwichtigung. Keine Verkitschung von Mutterschaft, keine Idealbilder weiblicher Selbstaufgabe, kein pädagogisches Drama mit Erlösungsgestus. Stattdessen: eine genaue, fast klinische Erkundung eines Zustands, der sich selten mit Begriffen wie „Wahl“ oder „Berufung“ greifen lässt. Die Autorin stellt nicht zur Debatte, was Mutterschaft sein könnte – sie zeigt, was sie ist, wenn alle Projektionsflächen weggeräumt sind.
Zwei Frauen, ein Pakt – und das Leben dazwischen
Alina und Laura begegnen sich in Paris, beide jung, beide überzeugt, dass Kinder das Ende jeder denkenden Autonomie bedeuten. „Eine menschliche Fußfessel“ nennen sie es. Die Freundschaft zwischen den beiden ist eng, fast ein Echoraum – bis Alina schwanger wird. Und nicht nur das: Der Fötus ist schwer krank, eine Zukunft des Kindes kaum denkbar. Doch Alina entscheidet sich, es zu bekommen. Nicht aus einem plötzlichen Mutterinstinkt heraus, sondern aus etwas anderem – vielleicht Trotz, vielleicht Verantwortung, vielleicht aus keinem der beiden.
Während Alina zwischen Krankenbett, Verwaltung und Grabstelle pendelt, beginnt Laura, sich um ein vernachlässigtes Nachbarskind zu kümmern. Ohne Überzeugung, ohne Agenda. Eher, weil es keiner sonst tut. Nettel legt hier kein feministisches Konzept aus, sie beobachtet – was geschieht, wenn sich Vorstellungen von Selbstbestimmung und Fürsorge ineinander verhaken.
Sprache ohne Tränen
Nettels Prosa ist frei von Weichzeichnern. Kein didaktischer Ton, kein Pathos, keine Sentenz, die alles auflöst. Ihre Sprache ist knapp, schnörkellos, fast spröde – und gerade deshalb glaubwürdig. Sie überlässt dem Leser keine Schlupflöcher, aber genug Raum. Raum für das Unausgesprochene, das sich zwischen zwei Zeilen einnistet. Dass die deutsche Übersetzung von Michaela Meßner dabei so mühelos wirkt, ist kein Zufall: Sie überträgt die karge Präzision des Originals ohne Bruch – und vor allem ohne die Versuchung, zwischen den Zeilen zu kommentieren.
Wer entscheidet – und wer trägt die Folgen?
m Zentrum des Romans steht nicht die Frage, ob das Leben mit Kind erfüllend ist. Auch nicht, ob der Verzicht auf Mutterschaft ein Zeichen von Stärke oder Schwäche sei. Das Thema ist Verantwortung – und zwar in ihrer unsentimentalsten Form. Wer trägt sie, wer verweigert sich ihr, und was bleibt übrig von den Idealen, wenn Entscheidungen nicht mehr abstrakt, sondern irreversibel werden?
Alina ringt mit dem Zerfall eines einst erträumten Lebensmodells. Gleichzeitig beginnt Laura – die Ich-Erzählerin, fest verankert in ihrer Entscheidung gegen leibliche Mutterschaft – sich zaghaft um Nicolás zu kümmern, den Sohn ihrer Nachbarin Doris. Ein Kind, das zu viel allein ist, das nicht stört, sondern schweigt. Und weil niemand sonst hinsieht, tut Laura es.
Doris bleibt dabei seltsam konturlos – alleinerziehend, überfordert, oft abwesend. Eine Nebenfigur, die man gern näher kennengelernt hätte. Vielleicht aber liegt gerade in ihrer Blässe ein Spiegel der Vernachlässigung, die sie – bewusst oder nicht – weitergibt.
Zwischen Laura und dem Jungen entsteht eine stille, unaufgeregte Beziehung. Kein mütterlicher Impuls, keine erzieherische Mission – nur ein vorsichtiger Versuch von Fürsorge, der keiner Definition bedarf. Auch das ist Mutterschaft, irgendwie – oder zumindest das, was davon bleibt, wenn man das Wort selbst nicht mehr benutzen will.
Ein leiser Roman über das Unplanbare
Die Tochter ist kein lauter Text, aber ein unnachgiebiger. Er fragt nicht, ob etwas richtig oder falsch ist, sondern: Was passiert, wenn man die Kontrolle verliert und trotzdem weiterleben muss? Dabei entfaltet sich eine stille Wucht – nicht weil alles gesagt wird, sondern weil Nettel weiß, wann man besser schweigt.
Antworten gibt es keine. Nur ein paar unbequeme Wahrheiten – und die leise Erkenntnis, dass Aushalten manchmal mehr ist als Handeln.
Die Autorin
Guadalupe Nettel, geboren am 27. Mai 1973 in Mexiko-Stadt, zählt zu den markantesten literarischen Stimmen Lateinamerikas. Ihre Themen sind selten bequem: Außenseiterexistenz, Körperlichkeit, Mutterschaft, psychische Ambivalenz – all das behandelt sie mit einer Sprache, die keine Schleifen dreht. Nettel studierte Hispanistik an der UNAM und promovierte in Sprachwissenschaften an der renommierten École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Von 2017 bis 2024 leitete sie als Herausgeberin die Revista de la Universidad de México, eine der wichtigsten Kulturzeitschriften des Landes.
Ihre literarische Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Premio Herralde de Novela (2014) für Después del invierno, dem Premio Ribera del Duero für ihre Erzählungen in El matrimonio de los peces rojos sowie dem deutschen Anna-Seghers-Preis. Mit der englischen Übersetzung ihres Romans La hija única (Still Born) gelang ihr 2023 der Sprung auf die Shortlist des International Booker Prize – ein weiterer Beleg dafür, dass Nettel mit ihrer klaren, zurückhaltenden Prosa internationale Debatten prägt, ohne sich ihnen rhetorisch anzubiedern.
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