Mit „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“ erzählt Susanne Abel die lebenslange Geschichte zweier Heimkinder – zart, schmerzhaft und gesellschaftlich hellwach. Ausgangspunkt ist ein kleiner Junge, der am Ende des Zweiten Weltkriegs ohne Identität aufgefunden wird. Man schätzt sein Alter, nennt ihn Hartmut (später: Hardy) und bringt ihn in ein katholisches Kinderheim, wo er die Kriegswaise Margret kennenlernt. Beide werden einander Halt – und tragen die Folgen ihrer frühen Jahre bis in die nächste Generation. Das Buch erscheint bei dtv und wird als bewegender Familienroman über die Macht der Vergangenheit angekündigt.
Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104 von Susanne Abel:Heimkinderliebe, Nachkriegswunden – und ein Titel, der nachhallt
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Worum geht es: Hardy & Margret – ein Versprechen fürs Leben
Der Roman setzt dort an, wo Biografien aus den Fugen geraten: Ein namensloses Kind in Trümmerdeutschland, Strenge und Zucht im Klosterheim, Routinen, die mehr Gehorsam als Geborgenheit vermitteln. In diesem Umfeld findet Hardy in Margret eine Verbündete – sie nennt ihn „Hardy“, schützt ihn, und beide beschließen, sich nie wieder loszulassen. Aus der Notgemeinschaft wächst Liebe, aus dem Überlebensmodus der Versuch, ein „normales Leben“ zu bauen. Doch je stärker die beiden das Gestern wegschieben, desto deutlicher legt es sich wie ein Schatten über Berufe, Beziehungen und Erziehung.
Abel rahmt diese Liebesgeschichte über Jahrzehnte: Die private Spur (Heim, Ehe, Arbeit) verschränkt sich mit einer Familienlinie, in der Schweigen als Schutz gedacht ist – und doch Schmerz weiterträgt. Das zeigt sich exemplarisch an Emily, der Urenkelin, die wegen des unsteten Lebens ihrer Mutter bei Hardy und Margret aufwächst – und am Schweigen der Großeltern leidet. Der Zusatz im Titel – „Nr. 104“ – verweist auf eine Bezeichnung, deren Bedeutung sich im Verlauf eröffnet und dem Stoff eine zusätzliche, stille Wucht gibt. (Konkrete Wendungen und Schlussdetails lassen wir aus – der Roman lebt vom schrittweisen Erkennen.)
Wer ist man, wenn man niemand ist?
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Identität & Benennung: Wenn ein Kind ohne Herkunft ins Leben startet, muss Identität neu gebaut werden – Name, Rolle, Zugehörigkeit. Der Roman führt vor, wie fremdgegebene Namen und Akte-Nummern Biografien prägen.
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Heimkindheit & Loyalität: Das Heim erzeugt Überlebensstrategien: Loyalität wird zur Währung, Nähe zur Mutprobe. Aus Hardy und Margret wird eine Lebensgemeinschaft, die gleichzeitig Sicherheit und Last ist.
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Transgenerationale Weitergabe: Der Versuch, Traumata nicht zu erzählen, überträgt sie – in Ängste, Erziehungsmuster und Schweigen, das die Enkel- und Urenkelgeneration formt. Emily macht diese Dynamik sichtbar.
Nachkrieg, Heimkinder, Erinnerungskultur
Abel verankert ihr Personal in einer realen historischen Erfahrung: den deutschen Heimkindern nach 1945, den Erziehungspraxen in konfessionellen Einrichtungen und den Rollen, die Scham und Schweigen in Familien annahmen. Interviews und aktuelle Berichte rund um den Roman betonen genau diesen Hintergrund – und wie sehr Familiengeheimnisse über Jahrzehnte Beziehungen bestimmen können. Der Roman schließt hier an eine anhaltende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Heimerfahrungen und Kriegskindern an.
Einfühlsam, klar, nah an den Figuren
Die Verlagstexte versprechen eine kluge, einfühlsame, berührende Erzählweise – und genau darauf baut der Roman: nah an Hardy und Margret, ohne Kitsch, mit genauem Blick auf Gesten, Dialoge, Versäumnisse. Statt Spektakel setzt Abel auf eine leise, stetige Spannung: Man liest weiter, weil man die Verwandlungen der Figuren – vom Heimkind zur erwachsenen Verantwortung – verstehen will. Dass der Text zugänglich bleibt, macht ihn buchclubtauglich, ohne die Schwere seines Themas zu relativieren.
Was hat das Buch mit Abels früheren Erfolgen zu tun?
Mit „Stay away from Gretchen“ und „Was ich nie gesagt habe“ hat Abel bereits gezeigt, wie Privatgeschichten große Zeitlinien spiegeln – diesmal richtet sie den Fokus noch enger auf die Folgen von Heimkindheit und die Frage nach Zugehörigkeit. Die Parallele: Familiengeschichte als Bühne, auf der sich Erinnerung, Liebe und Schuld begegnen; die Differenz: Hardy/Margret stehen zentral und tragen das Thema über ein ganzes Leben.
Für wen eignet sich „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“?
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Leser von Familienromanen, die historischen Hintergrund (Nachkrieg) mit intimer Figurenarbeitmögen.
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Buchclubs, die über Schweigen, Vergebung, Bindung und Verantwortung quer durch Generationen sprechen wollen – mit vielen Textstellen, die Diskussionen tragen.
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Hörer: Es gibt ein Hörbuch; parallel wird der Roman auf Literaturfestivals und in Premierenlesungen vorgestellt – ideal, wenn man die Stimmen dazuhören möchte.
Kritische Einschätzung – Stärken & mögliche Schwächen
Stärken
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Relevanz + Nähe: Das Buch verbindet Zeitgeschichte mit emotionaler Präzision, ohne belehrend zu werden.
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Tragendes Figurenpaar: Hardy & Margret sind kein Plotvehikel, sondern psychologisch nachvollziehbar – ihre Entscheidungen wirken lange nach.
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Lesefluss: Die Sprache ist zugänglich, die Dramaturgie stringent; das macht den Stoff auch für breite Lesekreisegut anschlussfähig.
Mögliche Schwächen
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Schwere des Themas: Wer eskapistische Lektüre sucht, wird mit Kriegskindheit, Heim-Erfahrung, Schweigenkonfrontiert – bewusst unbequem.
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Vorhersehbarkeit einzelner Bahnen: In Familienepen sind manche Konfliktlinien erwartbar; die Stärke liegt weniger im „Twist“ als in der Konsequenz der Darstellung.
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Titelzusatz „Nr. 104“: Seine volle Bedeutung erschließt sich progressiv – wer früh Klarheit erwartet, braucht Geduld. (Das ist erzählerische Absicht.)
Drei Fragen, die der Roman aufwirft – kurz beantwortet
Warum gerade „Nr. 104“ im Titel?
Der Zusatz signalisiert von Beginn an: Bürokratie und Benennung stehen am Anfang dieser Biografie. Was genau dahinter steckt, entfaltet der Text schrittweise – und macht daraus Emotion, nicht nur Archiv. (Im Sinne der Ankündigungen ohne Detail-Spoiler.)
Wie viel historische Realität steckt drin?
Der Roman ist fiktional, dockt aber an reale Nachkriegserfahrungen und Heimkontexte an (katholisches Heim, Zucht/Ordnung, Schweigekult) – Themen, die bis heute öffentlich diskutiert werden.
Funktioniert das Buch ohne Vorwissen zu Abels früheren Titeln?
Ja. Es ist ein eigenständiger Roman; wer die früheren Bücher kennt, erkennt Abels Stärken (Familienspur + Zeitgeschichte) wieder, muss aber keine Vorkenntnisse mitbringen.
Über die Autorin: Susanne Abel – von der Doku zur Literatur
Susanne Abel arbeitete zunächst als Erzieherin, studierte Film und realisierte TV-Dokumentationen, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Mit „Stay away from Gretchen“ gelang ihr ein #1-SPIEGEL-Bestseller, gefolgt von „Was ich nie gesagt habe“. Abel lebt in Köln; in Interviews spricht sie offen über Familiengeheimnisse und darüber, wie Traumata narrative Energie für ihre Romane werden.
Lohnt sich „Du musst meine Hand fester halten, Nr. 104“?
Unbedingt – wenn du literarische Spannung ohne Krimischablone suchst. Abels Roman zeigt, wie Zuneigung aus Mangel wächst und wie Schweigen Familien formt. Das Ergebnis ist einfühlsam, klar und gesellschaftlich relevant – ein Buch, das lange nachklingt und viel Gesprächsstoff bietet.