Catherine Shepherd liefert mit Band zehn ihrer Laura-Kern-Reihe einen hochgespannten Psychothriller, der in den stillgelegten U-Bahn-Tunneln von Moabit spielt. Der Fund eines toten Jugendlichen in der verlassenen Station Birkenstraße, ein Verdächtiger mit plötzlicher Amnesie und ein verborgenes „heimliches Zimmer“ versprechen nicht nur Nervenkitzel – sie werfen Fragen nach verdrängten Erinnerungen, Gruppendruck und individueller Schuld auf. Gerade in Zeiten, in denen der öffentliche Diskurs von kollektiven Traumata und psychischer Überforderung Jugendlicher geprägt ist, trifft Shepherds Thema mitten ins Schwarze.
Laura Kern ermittelt: „Das heimliche Zimmer“ von Catherine Shepherd – Psychothriller & Analyse
Worum geht es in Das Heimliche Zimmer: Mord in der stillgelegten U-Bahn-Station
An einem verregneten Sommerabend stolpert ein Obdachloser über den leblosen Körper eines 16-Jährigen in der seit Jahrzehnten ungenutzten Station Birkenstraße. Der stumpf eingebrochene Schraubenzieher im Hinterkopf und die Spuren eines Kampfes lassen das LKA Berlin aufhorchen. Schnell gerät ein Mitschüler in Verdacht, der nach einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Opfer verschwunden war – doch bei seiner Festnahme kann er sich an nichts erinnern.
Laura Kern, Spezialermittlerin mit scharfem Instinkt, und ihr Kollege Max Hartung beginnen, die forensischen Spuren zu sichern und Zeug:innen zu vernehmen. In kursiven Rückblenden teilt der Erzähler Bruchstücke der Erinnerung des Verdächtigen mit, doch erst im letzten Drittel öffnet sich das namensgebende „heimliche Zimmer“ – eine verlassene Kammer unter den Gleisen, in der Jugendliche ein makabres Ritual inszenierten und die eigentliche Wahrheit vergruben. Diese Wendung trifft Leser:innen ebenso unvorbereitet wie die Ermittler:innen, denn Shepherd zieht alle falschen Fährten geschickt zusammen, bevor sie die Auflösung liefert .
Erinnerung, Schuld und Vergessen
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Verdrängte Erinnerung
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Der Amnesie-Effekt beim Hauptverdächtigen fungiert als Metapher für gesellschaftliches Vergessen: Wir neigen dazu, unbequeme Wahrheiten aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen.
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Unterirdische Räume
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Die stillgelegte Station und ihr „heimliches Zimmer“ stehen symbolisch für das Unbewusste. Hier lagern verdrängte Ängste und Schuld, bis sie die Oberfläche aufbrechen.
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Opfer-Täter-Dualismus
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Shepherd löst einfache Rollenbilder auf: Täter:innen sind ebenso Opfer familiärer und sozialer Dynamiken, und umgekehrt kann ein Opfer selbst Schuld tragen.
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Diese Motive verweben sich zu einem komplexen Spannungsgeflecht, das Leser:innen zwingt, eigene Voreinstellungen zu hinterfragen.
Moabit als Brennpunkt sozialer Konflikte
Moabit, seit der Gründerzeit Industriedrehscheibe und heute ein Brennpunkt von Gentrifizierung und sozialer Fragmentierung, bildet den perfekten Hintergrund für Shepherds Thriller. Die verlassenen U-Bahn-Stationen weisen auf städtebauliche Brüche hin, in denen Obdachlose Zuflucht suchen und Jugendliche heimlich feiern. Gleichzeitig stehen benachteiligte Schüler:innen unter Druck, während wohlhabendere Neu-Berliner:innen neue Cafés eröffnen – ein Mikrokosmos sozialer Ungleichheit.
Shepherd nutzt diese Kulisse, um Themen wie schulischen Leistungsdruck, häusliche Instabilität und digitale Vereinsamung anzusprechen. Indem sie reale Konfliktlinien in die fiktionale Handlung einbettet, regt sie zu Diskussionen über politische Verantwortung und gesellschaftliche Fürsorge gegenüber gefährdeten Jugendlichen an .
Atmosphärische Miniaturen und knappe Dialoge
Shepherds Prosa ist präzise und sinnlich:
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Szenische Miniaturen: Bilder wie der „Kältebiss des Morgentaus auf rostigen Schienen“ erzeugen eine filmische Dichte ohne überflüssige Ausschmückungen.
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Kapitelstruktur: 42 kurze Kapitel mit Cliffhanger-Enden halten das Tempo hoch und treiben den Lesefluss ungebremst voran .
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Dialoge: Lakonisch und pointiert – sie setzen bewusst Pausen und Blicke in den Raum, um Spannung zu erhöhen.
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Erzählperspektiven: Wechsel zwischen Ermittler:innen, Verdächtigem und kursiven Flashbacks erlauben einen multiperspektivischen Blick auf das Geschehen, ohne den Faden zu verlieren.
So entsteht eine dichte Atmosphäre, die sowohl Spannung als auch psychologische Tiefe liefert.
Für wen eignet sich dieser Psychothriller?
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Fans psychologischer Spannung: Die präzise forensische Arbeit und innere Monologe schaffen Gänsehaut.
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True-Crime-Community: Realistische Abläufe in Vernehmungsräumen und am Tatort sprechen Liebhaber:innen wohldokumentierter Krimis an.
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Buchclubs und Lesekreise: Die vielschichtigen Themen – Schuld, Erinnerung, Gruppendynamik – bieten reichlich Diskussionsstoff.
Leser die sowohl Nervenkitzel als auch intellektuelle Reflexion suchen, finden hier beides.
Stärken und Schwächen in der Analyse
Stärken
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Unverzüglicher Spannungsaufbau: Bereits auf den ersten Seiten zieht Shepherd Leser:innen in ein Netz aus Geheimnissen und Andeutungen .
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Authentische Berlin-Atmosphäre: Moabit wird zu mehr als Kulisse – es wird zur Figur mit eigener Stimme.
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Psychologische Komplexität: Charaktere agieren unter dem Druck eigener Traumata und sozialer Dynamiken, was sie glaubwürdig und vielschichtig macht .
Schwächen
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Nebenfiguren bleiben flach: Abseits von Laura Kern und Max Hartung hätten manche Nebencharaktere mehr Tiefgang verdient.
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Genrefertiges Motiv der Amnesie: Erinnerungslücken im Thriller sind nicht neu und wirken stellenweise vorhersehbar.
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Mittlere Tempo-Delle: Im zweiten Akt ziehen sich detaillierte Ermittlungsprotokolle gelegentlich in die Länge.
Lesetyp-Empfehlungen und Gesprächsimpulse
„Das heimliche Zimmer“ ist kein reiner Pageturner, sondern ein Psychothriller mit Tiefgang, der zur Reflexion über individuelle und kollektive Verantwortung anregt. Ideal für:
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Leser:innen, die beim Lesen innehalten und über die Mechanismen von Schuld und Vergessen nachdenken möchten.
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True-Crime-Fans, die echten Ermittlungsalltag in fesselnder Fiktion erleben wollen.
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Buchclubs, die gesellschaftliche Themen diskutieren und persönliche Perspektiven teilen wollen.
Gesprächsimpulse
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Inwiefern verdrängen wir selbst unangenehme Erinnerungen, und welche Rolle spielen „versteckte Räume“ in unserem Leben?
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Welche Verantwortung tragen Schulen und Politik für psychische Gesundheit Jugendlicher?
Über die Autorin: Catherine Shepherds Werdegang & Erfolge
Catherine Shepherd (Pseudonym von Katrin Schäfer; *28. Oktober 1972) wuchs in Oranienburg bei Berlin auf, studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Gießen und arbeitete anschließend in Banken in Frankfurt am Main und Düsseldorf . Sie debütierte 2012 mit ihrem Self-Publishing-Thriller Der Puzzlemörder von Zons, den sie im von ihr gegründeten Kafel-Verlag veröffentlichte . Bis 2021 verkaufte sie rund drei Millionen Exemplare ihrer Romane, darunter die historischen Zons-Thriller und seit 2015 die Laura-Kern-Reihe .
Im November 2015 erschien mit Krähenmutter der erste Band um Ermittlerin Laura Kern – ihr Debüt im Piper Verlag folgte 2016 . Heute lebt Catherine Shepherd mit ihrer Familie in Zons am Rhein und zählt zu den erfolgreichsten deutschen Thrillerautorinnen.
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