Paris, 1733. Der Boden matschig, das Licht stets flackernd – ein Mädchen stapft durch Morast. Marie Biheron, 15, Apothekerstochter, kennt keinen Schauplatz mehr für ihre Neugier: Sie will eine Leiche. Der Weg führt sie zur Kaserne der Schwarzen Musketiere. Diese Szene ist kein Auftakt zum Heldinnenepos. Sie ist eine geometrisch präzise Setzung: Forscherdrang, Autonomie, Widerstand. Keine Pathos-Aufladung – nur stilles, zielstrebiges Handeln.
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Zwei Lebensachsen, ein Atemrhythmus
Wunnickes Roman folgt zwei klar voneinander getrennten Lebenssträngen: der jungen, unerschrockenen Marie und ihrer älteren, erinnerungsschweren Selbst. Die Linie zu Madeleine Basseporte – etwa zwanzig Jahre älter, Pflanzenmalerin, Freundin, Lebensgefährtin – verwebt sich bewusst leise mit beiden Erzählsträngen. Die Frau, die nie explizit benannt wird, ist in jedem ihrer Handgriffe präsent.
Erinnerung als Schatten
In der älteren Marie klingt das Leben nach, ohne es auszubreiten. Erinnerungen treten nicht als Rückblenden auf, sondern als Schatten auf ihrem Blick – ein Raum ohne Erinnerung ist Stille, denkt man beim Lesen. Man spürt Erinnerung als Verschiebung von Raum, als Ausklang von Sätzen, als Nachhall einer Berührung.
Die Liebe in der Routine
Es gibt keine dramatischen Liebesgeständnisse, keine ekstatischen Ausbrüche – sondern eine Beziehung, die sich in der Routine verdichtet. Basseporte unterrichtet, begleitet und weiß: „Wir tun es, weil wir Frauen sind.“ Das tägliche Zusammensein, das gemeinsame Arbeiten, das stille Einlassen – all das wird zur Beziehungsarbeit, ohne großes Wort.
Wachsmodelle als Wissensarchitektur
Marie arbeitet ihre anatomischen Modelle bis zur bitteren Genauigkeit aus: Organe, Schwangere, Heilige – sie reproduziert, was unsichtbar ist. Dass sie diese Objekte verkauft – an Mediziner, an die Königin – zeigt das Spannungsfeld zwischen Wissen und Sichtbarkeit, Subjekt und Objekt. Sie wird zur weltweiten Kuriosität. Sie bleibt unsigniert. Denn ihr Geschlecht bleibt eine Unterschrift, die nicht hingehört – im 18. Jahrhundert.
Sprache mit Tastsinn und Rhythmus
Wunnickes Prosa greift Regeln wie ihre Modelle an: kurz, rigoros, rhythmisch, aus wenigen Worten destilliert. „Was?“, „Subskription?“, „Ich möchte eine Leiche kaufen.“ Jede Silbe trägt Bedeutung. Die Dialoge wirken wie mikrophonische Opern: minimal besetzt, maximal präzise. Keine historische Wucht, aber Wirkung: Der Klang sitzt.
Miniatur als Modell – Szenen wie Schnitte
Jede Szene ist ein präziser Schnitt durchs Fleisch: Morastauffahrt, Kellerszene, Leichenfrage, Affenszene, Fastentuch-Metapher, Guillotineverweis – alle setzen wenig um, erzeugen aber Wirkung. Die Szene mit dem Affen, der eine wächserne Heiligenfigur verschlingt, ist dabei ein grotesk‑visionäres Symbol für das Verhältnis zwischen Glaube, Körper und Wissensdrang. Ohne Worte – aber ultrascharf.
Religion, Reinheit, Jungfräulichkeit – Reduktion auf Reflexion
Was Fokke Joel als „Reinheits‑ und Jungfräulichkeitswahn“ nennt, wird in der Prosa nicht explizit benannt – aber erinnert: Das Gebet im Morast, das Fastentuch‑Kapitel, die symbolikregulierende Szene mit dem Affen. Alles verweist auf ein religiöses Kalkül, das routinemäßig gebrochen wird: hier wird mit der Leiche gedacht, mit der Brustbildgestaltung triumphiert – ohne Laut zu werden.
Revolution als leiser Schatten
Keine politische Wucht, keine Jahreszahlen. Es reicht ein „tödliches Cembalo“ – und man spürt den Schatten der Guillotine. Der Begriff löst die Bühne, nicht eine Szene. Die Revolution wird zum akustischen Bild: Axtklirren, Morastgeruch, Staub, Schweigen. Keine Geschichtslektion – eine Umgebung zum Erraten und Befühlen.
Wachs als Material, Wachs als Bild
Der Titel ist programmatisch: Wachs als plastischer Stoff, als Modellmaterial, als Metapher für Formbarkeit, Schwund, Wachstum, Vergänglichkeit – und als Protest gegen das Lineare. Wachs wird zum Lebensbild: formbar, veränderbar, reversibel. Marie formt Körper; Christine Wunnicke formt Geschichte.
Feminismus in kleinsten Gesten
Es gibt keine öffentlichen Demonstrationen, keine gender‑theoretischen Predigten. Dafür: eine Apothekerstochter, die Skalpelle kauft und Leichen sezieren will. Eine Pflanzenmalerin, die Briefe versteckt, weil sie ihre Meinung kennt. Eine Beziehung im Alltag, nicht im Mai‑Herz. Feminismus ist hier Stillarbeit, keine Parole, aber Haltung.
Subtiler Humor, bizarre Konzentration
Wo andere illustrativ werden, bleibt Wunnicke schemenhaft – aber fokussiert. Die Chapelle‑Szene, in der eine sexuelle Spannung zwischen Marie und Madeleine andeutet, ohne zu explodieren. Die Gespräche mit Offizieren, in denen ein Kind den Herren rhetorisch die Führung nimmt. Die wächserne Schwangere. All das wirkt nicht verspielt – sondern durchdringt uns mit der Groteske des Alltäglichen.
Wer das hier liest, muss sich entscheiden
Manche werden den Roman nach zwanzig Seiten beiseitelegen – zu wenig Handlung, zu viele Lücken. Andere lesen zweimal, weil vieles nicht erklärt, sondern nur angedeutet wird. Wer konventionelle Erzählstrukturen erwartet, wird hier nicht fündig. Und wer Sprache als reines Transportmittel begreift, dürfte mit der Art, wie hier erzählt wird, nicht viel anfangen können.
Wunnickes Stil setzt auf Reduktion, auf Tonlage und Rhythmus. Ihre Sätze sind klar gebaut, aber sie erklären nichts – sie lassen Raum. Wer bereit ist, mitzulesen, findet darin mehr als nur die Handlung. Wer nicht, dem wird es schlicht zu wenig sein.
Im Schatten von Thomas Bernhard
Sprachlich steuert Wunnicke in entgegengesetzte Richtungen von Thomas Bernhard – aber bei beiden spürt man dieselbe Präzision im Satzbau. Bernhard baut Furor und Wiederholung, Wunnicke lässt Schweigen und Reduktion wirken. Bernhards energetische Sätze verkehren sich bei ihr in stumme Klarheit. Beide setzen Sprache als Gerät: einer zur Eskalation, sie zur Konzentration. Wer Bernhards Furor kennt, hört bei ihr, was Schweigen bewirken kann.
Kopf und Körper, Wissen und Form
Wachs ist kein Roman, den man liest, um ihn zu fühlen. Man liest ihn, um ihn zu denken – in Bildern, Düften, Haargenauigkeit. Er ist ein Text, der aus Form entsteht, nicht aus Plot: Wachsmodelle, Affen, Fastentuch, Cembalo – alles ist Baustein einer Miniatur über Autonomie, über weibliches Wissen, über Sprache als Materialarbeit. Kein Geschichtsbuch. Kein Gefühlsroman. Sondern eine literarische Chirurgie: ein Schnitt in die Norm, präzise, knapp, wirkungsvoll. Ein Buch, das man nicht vergisst – weil es nachwirkt, wie ein Modell, wie eine Stimme, wie ein Schnitt im Schweigen.
Über die Autorin Christine Wunnicke
Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München. Sie schreibt Romane, Hörspiele und biografische Texte, bevorzugt in schmaler Form – und mit großer Wirkung. Seit ihrem Debüt „Die Nachtigall des Zaren“ (2001) arbeitet sie sich mit lakonischer Präzision durch historische Figuren und Konstellationen, oft exzentrisch, immer eigensinnig. Für ihre Romane erhielt sie unter anderem den Tukan-Preis, den Franz-Hessel-Preis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. Ihre Spezialität: historische Miniaturen mit fiktionalem Nerv und trockenem Witz. Mit Wachs legt sie nun erneut einen Roman vor, der sich nicht für Vergangenheit interessiert, sondern für das, was aus ihr gemacht wird.
Christine Wunnicke
Wachs
Berenberg Verlag, 27. März 2025