Ludwig Huber ist Verhaltensbiologe, Kognitionswissenschaftler und Professor an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, wo er das Messerli-Forschungsinstitut für Mensch-Tier-Beziehungen leitet. In seinem im vergangenen Jahr erschienen Buch "Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche" geht Huber auf über 600 Seiten der Frage nach, ob wir nichtmenschlichen Lebewesen Rationalität und Bewusstsein zuschreiben können. Lesering hat den Autor gefragt, wie "rationales Denken" überhaupt definiert werden kann, was der Nachweis eines nichtmenschlichen Bewusstseins für den Menschen bedeutet könnte und was wir von tierischen Verhaltens- und Lebensweisen - gerade in Bezug auf unser Naturverhältnis - lernen können. "Das rationale Tier" ist in diesem Jahr für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
Herr Huber; wird man als Laie mit der Aussage „Tiere können denken“ konfrontiert, ist man schnell dabei, dieses "tierische" Denken mit dem menschlichen abzugleichen. Sehen Sie ein Problem darin, dass wir uns im Vergleich zum Tier allzu oft als Referenzpunkt setzen, vielleicht setzen müssen?
Ja und nein. JA deshalb, weil sich viele Menschen – heute und bis weit zurück in der Geschichte der Menschheit – als Krone der Schöpfung sehen, dem Tier überlegen, besonders im Denken. Mit dieser Einstellung ist man dann schnell bei Zuschreibungen, die das Tier abwerten oder entwerten, zur Sache, zum Automaten, zum instinktgetriebenen und gefühllosen Wesen degradieren. NEIN, weil die (seriöse) vergleichende Kognitionswissenschaft den Menschen selbstverständlich einschließt und viele Ideen und Versuchsanordnungen von Humanpsychologen für Tests mit Kindern oder Erwachsenen ersonnen wurden. Und NEIN auch deshalb, weil wir erkenntnistheoretisch bei allem, was wir denken und fühlen, als Menschen handeln und von unserem Gehirn aus die Welt, die Tiere und alles andere um uns erfassen. Daher können wir nicht wie eine Fledermaus denken und fühlen, um den Buchtitel eines amerikanischen Philosophen (Thomas Nagel) zu bemühen.
Bücher über tierisches Denken - das schreiben Sie auch in der Einleitung Ihres Buches - gibt es genügend. War es also auch ein Anreiz für Sie, ein wissenschaftlich fundiertes Werk vorzulegen, das als eine Art Gegengewicht gelesen werden kann? Zu zeigen, wo die entsprechende Forschung derzeit tatsächlich steht?
Nicht unbedingt als Gegengewicht, aber als Ergänzung. Mir lag daran, nicht nur zu beschreiben, was die Wissenschaft an Erkenntnissen gewonnen hat, quasi die Resultat ihrer Forschungen, sondern auch, wie sie dorthin gekommen sind. Ich wollte damit auch zeigen, wie schwierig die Forschung sein kann, wie sehr man sich bemühen muss, Alternativerklärungen auszuschließen, Fehler zu vermeiden, dem Denken von Tieren mit klugen Tests und ausgeklügelten Versuchsanordnungen beizukommen, und auch welche Dispute, Widersprüche und ungeklärte Fragen es nach wie vor gibt. Die Leser sollen verstehen, dass Wissenschaft im Fluß ist, man auch Widersprüche aushalten muss und Geduld braucht, bis die offenen Fragen geklärt sind. Wir leben in einer Zeit der schnellen und einfachen Antworten. Auch dagegen will ich mein Buch verstanden wissen.
Wie kann „rationales Handeln“ in Bezug auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Tieren definiert werden? Können Sie das kurz umreißen?
Ich würde zunächst vor einfachen Definitionen warnen. Natürlich hat Ratio mit Vernunft zu tun. Wichtig ist jedenfalls, dass „rationales Handeln“ zu guten Ergebnissen führt. Das kann bedeuten, dass man eine Lösung für ein neues Problem durch Abwägen verschiedener Alternativen erzielt. Insofern gehört Kreativität und Innovation dazu. Zum Beispiel beim Einsatz oder gar bei der Herstellung eines Werkzeuges. Weiters kann es bedeuten, dass man die Vergangenheit (durch Erinnerung) einbezieht und sogar in die Zukunft denkt und die nächsten Schritte plant, ein Ziel hat und beim zielorientierten Handeln die Konsequenzen seines Handelns voraussieht, die effizientesten Wege dorthin abwägt und eventuell sogar aktuelle Bedürfnisse zugunsten eines zukünftigen Bedürfnisses unterdrückt. Auch kann es “vernünftig" sein, seine eigenen Fähigkeiten und sein momentanes Wissen richtig einzuschätzen. Und schließlich ist es für soziale Tiere wichtig, die anderen Gruppenmitglieder zu verstehen, ihre Handlungen und Motive, ja sogar ihr Wünsche und Überzeugungen, um deren Handlungen zu antizipieren und sich danach frühzeitig zu orientieren. Also einen Schritt voraus zu sein. Alle diese Fähigkeiten würde ich zu den Kriterien praktisch-rationalen Handelns zählen. Ich will aber nicht bestreiten, dass die Ratio des Menschen auch die Fähigkeit einschließt, Gründe für sein Handeln benennen zu können, sich darüber mit anderen austauschen zu können, zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können. Tierarten haben mehr oder weniger von diesen Fähigkeiten, eine klare Trennung ist so wenig sinnvoll wie die Entscheidung, ab wann ein Hügel ein Berg ist oder ab wie vielen Körnern etwas ein Haufen ist.
Was würde der Nachweis eines tierischen Bewusstseins für den Menschen bedeutet?
Mindestens zweierlei: einerseits ist es gut und wichtig, Tiere besser zu verstehen, und dieses Wissen ist auch für die Einschätzung unserer selbst von großer Bedeutung. Gerade im Hinblick auf das Denkvermögen werden viele Tiere (stark) unterschätzt, umgekehrt wieder viele Menschen (im Alltag) überschätzt. Es hilft leider wenig zu wissen, zu welchen enormen geistigen Leistungen Menschen wie Mozart oder Einstein fähig waren, wenn Menschen im Alltag viel zu oft unbedacht oder sogar irrational handeln, nach einfachen, schnellen Lösungen suchen, Verschwörungstheorien glauben und faktenbefreit entscheiden. Manche Philosophen definieren Denken mit der Fähigkeit, Urteile zu bilden und nach Gründen zu handeln. Leider bilden zu viele Menschen Vor-Urteile und handeln (ausschließlich) nach Gefühlen.
Gerade hochindustrialisierte Länder pflegen einen ausbeuterischen Umgang mit der Natur. Könnte sich der Versuch, Verständnis und Interesse gegenüber tierischen Verhaltens- und Lebensweisen aufzubringen, auch positiv auf die eigene Lebenspraxis auswirken?
Ja, absolut. Tierarten überleben nur dann, wenn sie ihre Umwelt nicht ausbeuten. Der Termitenbär würde sich und seine Art gefährden, wenn er den Termitenbau ganz zerstört und alle Termiten fressen würde, sodass sich dieser nicht mehr regenerieren kann. Irgendwann sind alle Termitenbauten in seiner Umgebung zerstört und er würde selbst zu Grunde gehen. Viele unserer Zeitgenossen haben dieses Prinzip leider nicht verstanden oder verinnerlicht. Wir müssen mit unseren Ressourcen schonender umgehen. Ausbeutung und ungezügeltes Wachstum sollte auf allen Ebenen vermieden werden. Nicht nur im Umweltbereich und Energiesektor, auch im Sozialen.
Ludwig Hubers Buch "Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche" ist 2021 im Suhrkamp Verlag erschienen. Laut Verlagsankündigung will Huber darin nicht nur zeigen, was wir heute über den Geist der Tiere wissen und wie wir es herausgefunden haben, sondern auch, wozu dieses Wissen überhaupt gut ist. Neben der zweckfreien Befriedigung unserer Neugierde treibt ihn auch ein moralischer Imperativ: "Um sie zu retten, müssen wir uns kümmern, und kümmern können wir uns nur, wenn wir sie verstehen." Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse verlangen eine entschiedene Revision unserer irrationalen und ethisch fragwürdigen Einstellungen gegenüber Tieren.
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