In dem SWR-Format "Schecks Anti-Kanon" verreißt der Literaturkritiker Denis Scheck miserable Bücher, um sie anschließend in Rauch aufgehen zu lassen. Verschiedene KommentatorInnen sahen darin eine Anspielung auf die Bücherverbrennung 1933. Dass nun ausgerechnet der Verriss zu Adolf Hitlers "Mein Kampf" nicht mehr zu sehen ist, zeigt auch, wie kontraproduktiv Kritikerkritiken sein können. Die mediale Dauererregtheit entpuppt sich hier ein weiteres Mal als ein Karussell der Selbstgefälligkeit, welches genug Platz für alle bietet. Die Geschwindigkeit regulieren kann aber nur, wer draußen bleibt.
Frage: Was ist ärgerlicher, ein Verriss, an dessen Ende ein Buch in Flämmchen aufgeht, oder die Verrisse des Verrisses mit nachträglicher - guter neuer deutscher - Überempörung? Antwort: Vollkommen egal, wichtig sind nur die Klicks. Langweiliger und zudem fragwürdiger ist in jedem Falle Letzteres. Vor allem dann, wenn das Format, über welches man sich da auslässt, vollkommen fehlinterpretiert wird. Aber beginnen wir von vorn.
Der Literaturkritiker Denis Scheck spricht in seinem neuen SWR-Format "Schecks Anti-Kanon" über "schlechte, missratene, vollkommen miserable Bücher", um diese dann, am Ende der im Schnitt fünfminütigen Sendungen, in Flammen aufgehen zu lassen. Bücher und Flammen? Richtig, das geht nur außerhalb Deutschlands. Beispielsweise wenn die Harry-Potter-Autor J.K. Rowling Blödsinn erzählt hat, und man daraufhin gemeinsame Bücherverbrennungen (tatsächlich richtige, im "echten" Leben stattfindende) organisiert. In Deutschland hingegen reicht ein virtueller Funke, um ein Buch brennen zu sehen. Die entfernteste Assoziation genügt, um den Twitter-Pöbel empört auf die Barrikaden steigen zu lassen, um, schäumend und blind vor Wut, ganze Formate in den Abgrund zu stürzen. Gute alte deutsche Rigorosität eben.
Bücherverbrennung?
Denn von Bücherverbrennung kann hierbei in der Tat nicht die Rede sein. Scheck richtet lediglich die flache Hand auf das verrissene Buch, ein virtueller Blitz erscheint und zack ... das Werk verpufft. Eine schlichte Visualisierung der Tätigkeit des Literaturkritikers, dessen Aufgabe es nun einmal ist, hie und da Bücher zu zerstören, zu vernichten. Man denke in diesem Kontext nur an das SPIEGEL Cover aus dem Jahre 1995, auf dem Marcel Reich Ranicki als Buch zerreißender Moses dargestellt wurde. Geben Sie mir nur 5 Minuten und ich zähle Ihnen all die Gefühle auf, die dabei verletzt wurden.
Wer in dieser Visualisierung einen Verweis auf die Bücherverbrennung im Mai 1933 sieht, muss jahrelang erregt vor seinem Schreibtisch gesessen und spitzfindig auf die Möglichkeit gewartet haben, in irgendeiner Visualisierung (Qualm, Buch, Blitz, whatever ...) einen solchen Verweis sehen zu können. Aber selbst das Schreibtischtätertum ist nicht das ärgerlichste an der Auseinandersetzung mit "Schecks Anti-Kanon".
Wer hat überhaupt von Literaturkritik gesprochen?
Wie bereits erwähnt konnte man aus vielen Kommentaren herauslesen, dass sich Schecks neues Format zerstörerisch auf ernsthafte literaturkritische Sendungen im Netz und Fernsehen auswirkt. Statt anständige, aufrichtige und anregende Kritik zu leisten, verlasse man sich auf die effektvolle Inszenierung. Scheck wird mal als Clown (SPIEGEL), mal als oberster Dompteur (Deutschlandfunk) der Literaturkritik beschrieben, der diese zu immer absurderen Kunststückchen treibt. Tatsache ist jedoch, dass "Schecks Anti-Kanon" überhaupt nichts mit Literaturkritik zu tun hat. Es ist ja gerade das Konzept der Sendung, dass die Haltung des Moderators zu den von ihm vorgestellten Büchern von vornherein feststeht. Man weiß, dass Denis Scheck die vorgestellten Bücher verabscheut, eben "Schlecht, missraten und miserable" findet. Bücher zu verabscheuen aber, ist noch keine Literaturkritik.
Die Stärke der Literatur ist ihre Behäbigkeit
Die hier durchgedrückte (und von Scheck seit Jahren betriebene) Überinszenierung ist ausgerechnet die Qualität der Sendung, nicht ihr Manko! Zu glauben, eine Sendung läge ihr Hauptaugenmerk auf Literatur, nur weil auf dem Bildschirm Bücher zu sehen sind, ist vielleicht doch etwas zu einfach gedacht.
Unverständlicherweise wurde die kritische, selbstironische Haltung in Schecks Auftritt völlig verkannt. Man sah wohl schlicht und ergreifend darüber hinweg, dass der Moderator hier offensichtlich als personifizierter Raubtier-Kapitalismus auftritt, als Ursprung dessen gewissermaßen, womit er sich nun rumschlagen muss. Nein, diese Überspitzung ist keineswegs Clownerie. Sie zeigt vielmehr die Rigorosität der Aufmerksamkeitsökonomie, zeigt, dass - hier haben die KommentatorInnen ja Recht - Bücher und Literatur in einer immer erregteren Medienwelt kaum mehr Fuß fassen können. Man kann im Jahre 2021 eben kein Literarisches Quartett mehr machen, denn der Streit um Bücher wird in jedem Falle weniger aufregend sein als die vielen Kriege und die erneuten Terroranschläge; wird weniger Aufmerksam fokussieren als das plötzliche Hochwasser, die bedrohlichen Umweltkatastrophen, die politischen Skandale oder die wackligen Totschlag-Aufnahmen.
Aber gerade die Behäbigkeit der Literatur ist ihre Stärke. Je schneller und überbordender uns die Welt um die Ohren fliegt, desto wirkmächtiger wird auch die oppositionelle Kraft lang ausgedehnter Geschichten. Schecks "Anti-Kanon" ist also, und der Titel erzählt das ja schon mit, ein literarisches Anti-Beispiel, welches sie nicht nur auf die inhaltlichen Aspekte von Literatur bezieht, sondern auch auf die Verpackung, auf die Präsentation von literarischen Werken in Fernsehen und Netz. Es zeigt, welch ein Platz der Literatur im medialen Bereich noch zukommen kann. Und in dieser Hinsicht wäre es geradezu zynisch, gute Bücher zu besprechen und zu loben. Nein, die Literaturkritik, die sich mit hochrangigen Werken auseinandersetzt, hat ihren Platz dort, wo kein Bildschirm in Reichweite ist. Gerade hier ist sie revolutionär.
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