„Das große Ganze im vielen Kleinen“ ist ein Geschenk für seine kleine Tochter. Für sie schrieb Thomas Bärsch sein Leben in der DDR auf. Das Land, das es längst nicht mehr gibt, das manche zurückhaben wollen und das kaum jemand in seiner gänzlichen Widersprüchlichkeit versteht. Schließlich gab es nicht DIE DDR, stattdessen 16 Millionen verschiedene Deutsche Demokratische Republiken. Und seine ganz persönliche hat Thomas Bärsch in diesem Buch zusammengefasst. In 50 witzigen, skurrilen, nachdenklichen Anekdoten, Einlassungen und manchmal nur Gedankenschnipseln hat er seine Kindheit und Jugend in Worte gefasst. Pro Jahresabschnitt gibt es noch eine Zeitleiste und interessante Fakten, die das Private ins Weltgeschehen einordnen.
Gleich vorweg: Das Verdienst des Autors besteht darin, Erinnerungen wachzurufen, echtes Leben sichtbar zu machen hinter dem, was allzu oft desinteressiert als „SED-Diktatur“ vereinfacht wird. Allen ideologischen Haken und Ösen zum Trotz gab es in dem verschwundenen Land nämlich auch ganz normalen Alltag. Mit Menschen, die zufrieden waren, angepasst oder an ihrem Land litten. Wie in jedem System also.
Das große Ganze im vielen Kleinen
Das Buch illustriert aber auch die schleichende Indoktrinierung von Kindesbeinen an. Das Ziel: Treue Parteigänger, mindestens aber gehorsame Staatsbürger zu erziehen. Der ein oder andere Leser erinnert sich bestimmt an die so genannten „sozialistische Persönlichkeiten“ die es zu formen galt. Genormtes Leben von der Wiege bis zur Bahre.
Thomas Bärsch wird im April 1967 in Leipzig geboren „nur 22 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Historisch ein Katzensprung, doch für mich: Unendlich weit weg. Diktatur, Hitler, Krieg: Geschichtsunterricht.“ Thomas wird älter, kommt in die Schule und wird natürlich Jungpionier. Und ab jetzt taucht immer wieder der Staat auf:
„Und ich erinnere mich, dass ich eigentlich überhaupt nicht recht wusste, was sie mit diesem „Sozialismus“ meinten, zu dem alle „immer bereit“ waren. Wohl auch deswegen war ich auf die FDJler etwas neidisch, denn die hatten nicht so eine komplizierte Grußformel, bei denen war alles klar: Der Apellleiter gab vor: „Ich begrüße die Mitglieder der Freien Deutschen Jugend mit „Freundschaft“ – Und die FDJler antworteten nur: „Freundschaft“. Viele von ihnen ließen dabei auch den gerade überstandenen Stimmwechsel heraushängen, was der „Freundschaft“ etwas beiläufig Dahingesagtes verlieh – und sich ziemlich cool anhörte.“
Der Leser kommt aus dem Lachen oder zumindest dem Lächeln nicht heraus. Besonders hübsch sind die Bilder im Kopf, wenn der Autor oder ein anderes Familienmitglied jeden Sonntag vor dem Fernseher sitzen und das ARD Wochen-Programm mitschreiben, dass damals noch eine Ansagerin vortrug. „Und außerdem hatten wir natürlich unsere Codes entwickelt: Samstagabend „EWG“ = „Einer wird gewinnen“, eine kluge Spielshow mit Hans Joachim Kulenkampff, oder Dienstag „NN“ = „Nonstop Nonsens“, Klamauk mit Didi Hallervorden. (…) Oft schrieb ich nur auf, aus welchem Land ein Film stammte, und aus welchem Jahr. „Freitag 20:15, USA 1972“. Was für`n Film war eigentlich egal. Der Titel auch. USA halt. Manchmal schrieb ich auch „Scheiße“ dahinter und führte dann mit meiner Mutti einen Disput über die Wortwahl und darüber, dass kein Familienmitglied mit meinem Urteil was anfangen könne, wenn da nicht noch mehr stünde.“
Absurd wie komisch ist die die Anekdote um den chilenischen Kommunisten Luis Corvalán. der nach dem Pinochet-Putsch 1973 von der chilenischen Militärjunta gefangen gehalten und gefoltert wurde. Eine internationale Solidaritätskampagne setzte sich für seine Freilassung ein. Auch in der DDR wurden Unterschriften gesammelt und Briefe geschrieben. „Auch ich persönlich schickte einen, adressiert an General Pinochet, in dem ich ihn nachdrücklich aufforderte, Luis Corvalán freizulassen. Ich war in der zweiten Klasse! (…) Ich verzierte also meinen Protestbrief an General Pinochet mit so einem Mandala-Vorläufer und gab den Brief meiner Mutti zum Abschicken. Ich hoffte tatsächlich, General Pinochet würde sein Handeln aufgrund meines Schreibens nochmal überdenken und Luis Corvalán freilassen.“ Es kam wie es kommen musste. Corvalán wurde freigelassen und der Autor dachte, das läge an seinem Brief, was ihn mit Stolz erfüllte.
Der Autor wird älter, reifer und nachdenklicher – auch was das System DDR angeht. Der Witz weicht dem Nachdenken, Nachfragen, dem genauer Hinsehen. Auch was die persönliche Geschichte des fast immer schweigenden, verbitterten Großvaters, der im 2. Weltkrieg in Hitlers Wehrmacht gegen die Sowjetunion, und nicht wie vom Autor automatisch angenommen, an der Seite der Russen gekämpft hatte. „Die DDR hatte es wirklich geschafft, uns glauben zu lassen, dass nur in unserem Land der Faschismus wirklich überwunden wurde. Anders als im Westen, wo „bis heute“ noch Nazirichter oder Professoren oder Lehrer in Amt und Würden seien. Dort laufen die Neo-Nazis ja sogar auf der Straße rum, dachte ich, und das wurde ja sogar im Westfernsehen berichtet.“
Später dann der Versuch, ihn als IM zu gewinnen. Und irgendwann der Wunsch, das Land zu verlassen. Am 17. September 1989. Nachts um 1:17 Uhr floh der Autor über Ungarn nach Westdeutschland. Wenige Wochen später war die DDR am Ende. Bärsch macht über Umwege Karriere als Fernsehjournalist und arbeitet seit vielen Jahren sehr erfolgreich für das ZDF Landesstudio Sachsen.
Und was bleibt? Mit diesem Thema geht der Autor ganz besonders offen um: Es dauert lange, in einem neuen System anzukommen, das Gefühl, anders zu ticken, ist oft noch da, „Wenn jemand zum Beispiel glaubt, mit Phrasen durchzukommen, weil er denkt, ich sei zu doof, sie zu bemerken, oder (schlimmer) zu feige, ihn offen damit zu konfrontieren. Ich spüre so etwas sehr schnell. Als Journalist kann diese Fähigkeit ausgesprochen hilfreich sein; gegenüber Vorgesetzten zum Beispiel war sie in der Vergangenheit aber manchmal auch schon etwas hinderlich. Denn einen souveränen – heute würde man sagen „smarten“ - Umgang mit dieser Verhaltensweise habe ich nicht gelernt. Ich neige hier eher dazu, so etwas sehr lange hinzunehmen und mich zurückzuziehen, anstatt aufzubegehren.“
Fazit
Bärschs humorvolle Streifzüge durch die eigene (Zeit)Geschichte sind ausgesprochen lesenswert, sie erden Erinnerungen wachrufen und unsere wie seine Nachkommen schlauer und verständnisvoller machen. Aufregender Geschichten-Unterricht statt drögem Geschichtsunterricht.
„Das große Ganze im vielen Kleinen“ ist am 25.Dezember 2017 erschienen.
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