Italiens Ex-Premier, Silvio Berlusconi , ist es zu verdanken, dass ich, sein aktuelles Portrait in der Zeitung erblickend, in die Vergangenheit katapultiert wurde, zurück in die Zeit vor meinem Studium.
Ich arbeitete damals ein Jahr lang mit sehr netten Kollegen in den Schaufenstern eines wunderbaren Modehauses. Ich dekorierte! Das Haus hatte vier Stockwerke. Im Erdgeschoss, ersten und zweiten Stock befand sich der Verkaufsbereich: Damen-, Herren-, Kinderoberbekleidung und Stoffe, außerdem eine gläserne begehbare Waschmaschine für Federbetten (einer Schneekugel ähnlich, ein märchenhafter Ort, an dessen Scheiben sich nicht nur Kinder gern die Nasen platt drückten, Frau Holle zu sehen erhoffend), im dritten Stock die Änderungsschneiderei, Sanitäranlagen, die Kantine und, oh Wunder! ein Ruheraum (durch bodenlange, taubengraue Vorhänge angenehm abgedunkelt) mit 12 Liegen für müde Mitarbeiter.
Den vierten Stock teilten sich die Personalabteilung und die hauseigene Plakatmalerei. Die Kollegen in der lichtdurchfluteten Plakatmalerei trugen weiße Kittel, mit Farbspritzern geschmückt, außerdem Bleistifte oder Pinsel im Haar oder hinter den Ohren.
Der interessanteste Ort im ganzen Haus war aber der Keller, das Reich der Dekorateure. Dort sah es aus wie in einer Theaterwerkstatt. Es roch nach Holz, Molton, Staub, Klebefolie, Farbe, Fixativ und Papier. Und nach Schokolade, die immer irgendwo auf den großen Schneidetischen griffbereit lag. Schaufensterpuppen standen herum wie im Wachsfiguren-Kabinett. Es gab Regale voller Arme, Beine und Torsi, Kartons mit künstlichen Blüten, mit Weihnachtskugeln, plüschigen Weihnachtsmannkostümen und mehrere orientalische Paravans.
Hier gab es keine weißen Kittel, wir trugen eng anliegende schwarze Overalls, denn man musste sich schlangenartig in den Fenstern zwischen Puppen und drapierten Stoffen bewegen, ohne an etwas anzuecken und dadurch die Dekoration womöglich zu Fall zu bringen.
15 große Schaufenster gab es, ich liebte es, darin zu arbeiten. Ruhig war es dort, beschaulich, Staubteilchen glitzerten in der Sonne, ein wenig wie im Aquarium, mit Luft statt Wasser. Man unterhielt sich leise über Farbnuancen, Faltenwurf, Licht und Schatten. Die Welt hinter der Scheibe sah unwirklich aus. Man befand sich im und gleichzeitig außerhalb des Hauses, wie in einer Zwischenwelt. Manchmal klopfte ein Bekannter an die Scheibe, dann konnte man auf die Straße gehen und kurz Hallo sagen und nebenbei die entstehende Arbeit von außen begutachten. Manchmal war es auch der Chef persönlich (ein großer Mann Ende 50, der mich stark an Michel Piccoli erinnerte), der da klopfte, um uns zu erschrecken.
Die Stadt war nicht besonders groß, die Fußgängerzone gemütlich. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein kleines, (wie vieles in dieser Stadt) sandsteinfarbenes, sehr altes Kloster. Die Mönche in ihren dunkelbraunen Kutten würdigten uns keines Blickes, ganz eindeutig waren sie nicht mit solch irdischen Dingen wie Kleidern und Puppen beschäftigt.
Doch eines Tages rief uns der Chef zusammen und berichtete von einem Anruf, der unser Leben in den Schaufenstern ab sofort und für alle Zeiten verändern sollte. Der Anruf kam aus dem Kloster. Die Mönche verlangten, dass die Puppen während der Umgestaltung gänzlich mit Stoffen verhüllt werden sollen; denn Nacktheit, auch die von Schaufensterfiguren, verletze der Klosterbewohner Schamgefühl, erklärte ihr Vorsteher am Telefon.
Unsere Puppen stammten allesamt aus den 20-er Jahren, eine Rarität! Die filigranen Nachbildungen stellten in stilisierter Form schöne Menschen dar, ohne dabei ins Detail zu gehen. Selbst das Haar war nur angedeutet und auf die Schädel gemalt. Diese Puppen waren der ganze Stolz des Modehauses! In den 20-er Jahren vom damaligen Gründer der Firma angeschafft, überlebten sie den 2. Weltkrieg im selben Keller, in dem sie immer noch waren, wenn sie nicht gerade “im Rampenlicht” gebraucht wurden. Auch die prüdeste Kundin kam bisher nicht auf die Idee, sich über entblößte Figuren zu beschweren, und jetzt das! Unser Chef war ein harmonieliebender Mensch, und daher ordnete er an, während der Arbeit sämtliche Fenster von innen zu verhängen, was die Qualität des Arbeitsplatzes auf ein Minimum reduzierte. Und da entschloss ich mich zu studieren und verließ nicht nur das Mode-, sondern auch mein Elternhaus und zog in eine größere Stadt.
Ob es dieses Modehaus noch gibt, weiß ich nicht. Das Kloster aber, da bin ich mir ganz sicher, steht noch immer an seinem Platz. Die Mönche hätten auch ihre Fenster verhängen können, denke ich heute.
Das Foto von Silvio Berlusconi, mit dem dürftigen Ergebnis seiner Bemühungen, den kahlen Oberkopf mit einer Haarpracht zu bepflanzen, ließ mich überraschenderweise an die schönen Schaufensterpuppen denken, an ihr gepinseltes Haar, an ihre zart gerougten Wangen, an die Ganzkörperlackierung. Der Politiker scheint auch eine Kunstfigur zu sein, wenn auch nicht so ansehnlich wie unsere Puppen.
Michel Piccoli gefällt mir nach wie vor besser, die Glatze spielt bei diesem Mann gar keine Rolle.
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