„Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle“: Zwischen politischer Erinnerung und persönlicher Abrechnung
Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle ist kein gewöhnliches politisches Buch. Es ist ein politischer Sprengsatz, eine juristische Provokation – und eine biografische Gratwanderung. Basierend auf über 600 Stunden Tonbandmaterial, das Helmut Kohl zwischen 2001 und 2002 seinem damaligen Ghostwriter Heribert Schwan anvertraute, liefert das Buch eine ungeschönte Innensicht auf das Denken eines der prägendsten Kanzler der Bundesrepublik.
Doch anstatt als historisch fundiertes Zeitzeugnis gefeiert zu werden, wurde das Werk zum Zentrum eines jahrelangen Rechtsstreits. Die große Frage: Wo endet journalistische Aufklärung – und wo beginnt der Bruch eines Vertrauensverhältnisses?
Politik als persönliche Bühne
Das Buch ist keine klassische Chronologie politischer Ereignisse. Vielmehr handelt es sich um eine thematisch gegliederte, teils kommentierte Sammlung von Zitaten und Einschätzungen, die Kohl seinem Biografen während monatelanger Gespräche anvertraute.
Dabei offenbart sich ein Kanzler, der nicht versöhnt ist – mit der Welt, nicht mit der CDU, nicht mit sich selbst. Die Spendenaffäre, sein Bruch mit der Parteiführung, der Tod seiner ersten Ehefrau Hannelore, sein schwieriges Verhältnis zur späteren Frau Maike Kohl-Richter – all das durchzieht das Buch wie ein unterschwelliger Strom aus Kränkung, Bitterkeit und dem festen Willen, das eigene Lebenswerk gegen Vergessen und Verfälschung zu verteidigen.
Helmut Kohl – ein Kanzler im Unfrieden
Was sich in den „Protokollen“ offenbart, ist kein selbstgewisser Altkanzler, sondern ein Mann, der mit der Geschichte im Clinch liegt. Kohl sieht sich selbst als Architekt der Einheit, als Visionär Europas – und zugleich als Opfer parteiinterner Intrigen.
Der Blick auf politische Weggefährten ist ernüchternd bis vernichtend: Heiner Geißler, Norbert Blüm, Wolfgang Schäuble – sie alle bekommen ihr Fett weg. Selbst Angela Merkel, von Kohl einst gefördert, wird als provinziell und „ungehobelt“ abqualifiziert. Die Maßstäbe, mit denen Kohl urteilt, sind radikal einfach: wer nicht loyal war, ist Gegner; wer widerspricht, ist Verräter.
Zwischen Originalton und Biertischcharakter
Die meisten Skandale rund um das Buch entzündeten sich an der Sprache. Heribert Schwan protokolliert nicht nur Kohls Gedanken – er zitiert wortwörtlich. Und das ist teilweise deftig, verletzend, und manchmal schlicht unflätig.
Darin liegt die journalistische Kraft – und zugleich das ethische Problem des Buchs. Viele Aussagen Kohls wurden nie zur Veröffentlichung autorisiert. Das Projekt, ursprünglich als Grundlage für autorisierte Memoiren gedacht, wird nach dem Zerwürfnis zwischen Kohl und Schwan zu einer Art Gegenbiografie. Die Frage, ob ein Altkanzler „im Vertrauen“ Gesagtes posthum in der Zeitung lesen sollte, bleibt umstritten – aber auch spannend.
Zwischen Journalismus und Justiz – Der Rechtsstreit als Teil des Buchs
Das Buch ist nicht nur wegen seines Inhalts brisant, sondern auch wegen seiner Veröffentlichungsgeschichte. Die Klage Kohls auf fünf Millionen Euro Schadensersatz gegen Autor und Verlag führte zu einem bemerkenswerten Urteil: Die Veröffentlichung zahlreicher Passagen wurde untersagt, spätere Ausgaben mussten geschwärzt werden.
Interessanterweise bewarb der Heyne Verlag die geschwärzte Version trotzdem offensiv – mit dem Hinweis, alle vom Gericht genehmigten Passagen seien enthalten. Ein journalistischer Akt oder ein Marketing-Gag auf Kosten des Rechtsfriedens? Die Frage bleibt offen – doch sie zeigt: Die Kohl-Protokolle sind nicht nur ein Buch, sondern auch ein Fall.
Die unzensierte Fassung – Was steht wirklich drin?
Wer heute noch eine ungeschwärzte Ausgabe in Händen hält, liest Passagen, die Kohl in seinem typischen Stil formulierte: direkt, autoritär, oft unversöhnlich. Es geht um taktische Finessen – etwa die Verschiebung der ungarischen Grenzöffnung um vier Stunden – genauso wie um intimste private Momente. Besonders beklemmend: Kohls distanzierte Reflexionen über den Suizid seiner Frau Hannelore.
Dass diese Aussagen ohne Einwilligung der Witwe Maike Kohl-Richter veröffentlicht wurden, macht die Lektüre nicht nur zu einem politischen, sondern auch zu einem moralischen Kraftakt.
Einordnung – Historisches Dokument oder politische Grenzüberschreitung?
Heribert Schwan und Tilman Jens verstehen ihr Werk als Beitrag zur Zeitgeschichte. Doch die historische Relevanz bleibt begrenzt. Es fehlt an Analyse, Kontextualisierung und Quellenkritik. Stattdessen bekommt der Leser eine Sammlung von Stimmen, Eindrücken, Abrechnungen – eindrücklich, aber fragmentarisch.
So steht das Buch letztlich zwischen den Genres: keine vollständige Biografie, kein journalistischer Bericht, kein analytisches Zeitbild – sondern ein Werk, das von seinem Skandal lebt.
Für wen ist dieses Buch geeignet?
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Für politisch interessierte Leser, die einen ungeschönten Blick auf die Innenwelt eines Machtmenschen werfen wollen
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Für Kenner der Kohl-Ära, die neue Perspektiven auf bekannte Konflikte suchen
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Für Debattenfreunde, die sich mit Fragen journalistischer Ethik und politischer Verantwortung beschäftigen
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Für Leser, die bereit sind, zwischen historischen Linien und persönlichen Verletzungen zu differenzieren
Stärken und Schwächen – Analyse in Klartext
Stärken:
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Authentische, teils brutale Offenheit
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Tiefer Einblick in Kohls Führungsstil und Selbstverständnis
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Erhellende Passagen zu politischen Netzwerken und Machtstrategien
Schwächen:
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Mangel an Kontextualisierung und analytischer Tiefe
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Fragwürdige Veröffentlichungspraxis aus ethischer Sicht
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Teilweise voyeuristischer Tonfall, der dem historischen Anspruch widerspricht
Über die Autoren – Heribert Schwan und Tilman Jens
Heribert Schwan, promovierter Historiker und Journalist, war über Jahre der offizielle Ghostwriter Helmut Kohls. Nach einem Zerwürfnis setzte er das Projekt ohne Kohls Autorisierung fort. Tilman Jens, ebenfalls Journalist, war bekannt für seine zugespitzten Biografien. Beide verband der Anspruch, politisches Handeln durch persönliche Motive verstehbar zu machen – mit diesem Buch haben sie ihn auf die Spitze getrieben.
Ein Buch, das mehr über Macht verrät als über Geschichte
Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle ist kein historisches Dokument im klassischen Sinn. Aber es ist ein Werk, das tief blicken lässt – in die Abgründe politischer Karrieren, in die Denkstrukturen autoritärer Persönlichkeiten, in das fragile Verhältnis zwischen Macht und Moral.
Es ist unbequem, stellenweise unappetitlich, aber auf seine Weise lehrreich. Nicht als Kanzlerbiografie – sondern als Lehrstück über das, was bleibt, wenn Geschichte zur privaten Abrechnung wird.
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