England, 1147: Bürgerkrieg, Banden, Hunger. Auf einer verfallenen Inselfestung vor der Küste Yorkshires fristen Männer und Jungen ihr Dasein, die man „weggeschlossen“ hat – krank, stigmatisiert, unbequem. Eine Sturmflut reißt ein Loch in die Mauer. Acht von ihnen nutzen die Chance. Einer heißt Losian, kennt nur diesen Namen – und weiß nicht, wer er ist. Rebecca Gablé macht aus dieser Ausgangslage keine Folterkammer-Story, sondern einen wuchtigen Entwicklungsroman über Identität, Loyalität und den Wert von Gemeinschaft – eingebettet in die Spätphase des englischen Thronkriegs, den Chronisten später „The Anarchy“ nennen. Die im Deutschen als Helmsby-Reihe geführte Linie setzt Das zweite Königreich erzählerisch fort, ist aber vollständig allein lesbar.
Hiobs Brüder von Rebecca Gablé – Die Anarchie, acht Ausgestoßene und die Frage
Worum geht es in Hiobs Brüder
Im Kloster St. Pankras hält man den jungen Simon de Clare wegen seiner Fallsucht für „besessen“. Er landet mit anderen „Unerwünschten“ auf der Isle of Whitholm: darunter Oswald (mit Down-Syndrom), die siamesischen Zwillinge Godric und Wulfric, der wirre „King Edmund“ – und Losian, der Anführer wider Willen. Nach der Flut gelingt die Flucht. Auf dem Festland schlägt ihnen die Härte eines zerrissenen Landes entgegen: marodierende Trupps, misstrauische Herren, eine Kirche, die Ordnung verspricht und oft nur Angst produziert. In Norwich findet die Gruppe kurz Schutz bei Josua ben Isaac, einem jüdischen Arzt; die Stadt brodelt seit dem (historischen) Fall William von Norwich, der die jüdische Gemeinde unter Generalverdacht gesetzt hat. In diesem Schutzraum beginnt Losian, Erinnerungssplitter zu sammeln – und verliebt sich in Josuas Tochter Miriam.
Eine Begegnung im Wald dreht die Story: Die Flüchtigen stolpern über den jugendlichen Henry Plantagenet, den künftigen Heinrich II. Der Weg führt nach Helmsby – und damit in Losians Vergangenheit. Hier fällt die Maske: Losian ist Alan of Helmsby, einst einer der fähigsten Männer im Gefolge Kaiserin Mauds. Ein altes Komplott, Verrat in der Familie und ein traumatisches Erlebnis im Kampf gegen Geoffrey de Mandeville hatten ihn ohne Gedächtniszurückgelassen. Aus dem „Niemand“ wird wieder ein Herr, der nun zwischen Kriegspflicht, neuer Liebe und alter Schuld navigieren muss. Das restliche Buch erzählt nicht von einer heldenhaften Rückkehr, sondern vom Preis des Wissens: Wer weiß, wird verantwortlich. Mehr zu verraten, hieße die Spannung zu verschenken; wichtig ist: Die Jahre 1147–1154 führen die Gruppe durch wechselnde Loyalitäten bis an den Rand der Legende – inklusive eines schimmernden Bury-St-Edmunds-Motivs, das eine leise mystische Note setzt, ohne den Realismus zu sprengen.
Themen & Motive – Identität, Stigma, Zugehörigkeit
1) Identität als Arbeit
Losians Weg zeigt, wie Selbst nicht als Erinnerung, sondern als Handlung entsteht: Er führt, schützt, entscheidet – lange bevor er weiß, wer er „eigentlich“ ist. Die Enthüllung „Alan of Helmsby“ verschiebt den Fokus nicht von innen nach außen, sondern verdoppelt die Aufgabe: Wer war ich? ist weniger wichtig als Wer werde ich jetzt – mit dieser Vergangenheit? Das ist die reife Pointe des Romans.
2) Stigma & „Irrenpolitik“
Die Inselfestung ist Gablés schärfster Einfall: ein Modelllabor für mittelalterliche Stigmatisierung. „Abweichung“ – päpstlich, medizinisch oder sozial definiert – wird wegverwaltet. Auf dem Festland spiegelt sich das Muster: Hexenwahnähnliche Deutungen von Epilepsie; Antijudaismus in Norwich; Adelige, die „Unehrenhaftes“ outsourcen. Gablé betreibt hier Sozialdiagnostik: Gesellschaften stabilisieren sich, indem sie Anderen ihre Ängste aufziehen.
3) Gemeinschaft als Überlebenskunst
Die acht Entkommenen sind keine Heldentruppe, sondern Not-Gemeinschaft. Jeder hat ein Defizit – und eine Kompetenz. Zusammen retten sie sich besser, als sie es allein könnten. Das erinnert an moderne Katastrophenberichte (und ist laut Gablés Nachwort tatsächlich inspiriert von einer realen Überlebensgruppe): Solidarität entsteht aus Aufgaben, nicht aus Gefühl.
4) Liebe & Recht
Alte Eide, neue Gefühle, kirchliches Sanktionsrecht – Gablé zeigt, wie Privates politisch wird: Exkommunikation ist hier nicht nur Seelenstrafe, sondern Enteignungsinstrument. Alans Beziehung zu Miriam macht aus Zuneigung eine Rechtsfrage – und aus Glaubensgrenzen Landrecht. Das ist klug erzählt und historisch plausibel.
5) Mythos am Rand
Die Episode um „King Edmund“ und das spätere Bury-St-Edmunds-Motiv öffnet eine Halbtranszendenz: Der Roman bleibt bodenständig, erlaubt aber Einbildungskraft, wo Geschichte Lücken hat. Wer Gablés eher streng realistische Waringham-Romane kennt, erlebt hier eine kontrollierte Erweiterung des Tons.
The Anarchy, Norwich, Mandeville
Der Zeitrahmen 1147–1154 markiert die Schlussphase des englischen Thronkriegs zwischen König Stephan und Kaiserin Maud – beendet erst mit der Krönung Heinrichs II. 1154. Die „Anarchie“ bedeutet im Alltag: feudale Privatkriege, „adulterine castles“, Räuberbarone wie Geoffrey de Mandeville, die Landstriche terrorisieren. Die jüdische Gemeinde in Norwich steht seit 1144 (William-Legende) unter besonderem Druck – im Roman spürbar, wenn Josua ben Isaacs Haushalt zur Schutzzone wird. Das alles ist keine Fußnote, sondern Konfliktmotor der Figurenhandlung.
Breitwandepos mit szenischer Nähe
Gablé liefert den vertrauten Sog: lange Kapitelbögen, Dialoge als Wissensträger, Schauplätze, die wie Bühnen wirken. Aber: Hiobs Brüder ist im besten Sinn experimenteller als viele ihrer Epen. Statt 40-Jahre-Panorama komprimiert sie – zwei große Teile handeln innerhalb eines Jahres – und fokussiert die Gruppe als Organismus. Die Sprache ist klar, oft lakonisch, mit Humor, wo das Elend droht, zu groß zu werden (etwa in den Wortwechseln der Zwillinge). Der Roman bleibt so zugänglich, ohne an Tiefe zu verlieren. Kritiken würdigen genau diesen Spagat aus „klassischer Gablé“ und neuer Tonfärbung.
Für wen eignet sich der Roman?
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Für Historienfans, die Figurenpsychologie und Gesellschaftsblick vor Waffentechnik mögen.
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Für Buchclubs: Die Gruppe liefert unendlich viel Diskussionsstoff – Stigma, Zugehörigkeit, Religionsgrenzen, Recht vs. Gewissen.
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Für Leserinnen und Leser, die Gablé kennen und eine Variante auf ihr Erfolgsrezept erleben möchten: weniger genealogische Breite, mehr Intensität in einer Schicksalsgemeinschaft.
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Weniger geeignet, wenn es ausschließlich Schlacht-zu-Schlacht-Action sein soll; Spannung entsteht hier häufig zwischen Menschen, nicht zwischen Heeren.
Drei Linsen, die die Lektüre vertiefen
A) „Wer definiert normal?“
Beobachte, wie Institutionen (Kirche, Adlige, Stadt) „Normalität“ setzen – und welche Kosten Außenseiter tragen. Welche Gegenmacht entsteht durch Freundschaft?
B) Sprache & Recht
Achte auf Formeln (Eide, Bann, Sühne). Wann wirkt Recht schützend, wann instrumentell? Was tut Exkommunikation hier praktisch – und was bedeutet sie innerlich?
C) Erinnerung als Handlung
Notiere Momente, in denen Losian/Alan ohne Erinnerung „richtig“ handelt. Die Identitätsfrage wird spannender, wenn wir sie ethisch statt rein biografisch stellen.
Kritische Einschätzung – Stärken & mögliche Reibungen
Stärken
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Außenseiter-Perspektive: Der Blick aus dem Rand macht das Mittelalter zeitgenössisch – Stigma wird konkret, nicht abstrakt.
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Komplexe Welt ohne Dozieren: Hintergründe (Norwich, Anarchy, Mandeville) tragen die Handlung, ohne dass Info-Monologe das Tempo bremsen.
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Gruppendynamik: Acht Figuren, kein Chaos – die Unterschiede erzeugen Sinn und Emotion.
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Tonstreuung: Ernst und Wärme, Härte und Komik – ein balanciertes Leseerlebnis.
Mögliche Reibungen
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Mystischer Schimmer: Das Bury-St-Edmunds-Motiv wird manchen als „unklares Fragezeichen“ irritieren – für andere ist es genau das poetische Restlicht, das bleibt.
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Gefühlte Zäsuren: Zwischen Teil I (Flucht/Gruppe) und späterem Helmsby-Bogen kippt der Fokus – wer ausschließlich die Road-Novel-Energie liebt, muss umschalten.
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Härte: Einzelne Szenen (Gewalt, Pogromdrohungen) sind heftig – in der Sache notwendig, aber nichts für zarte Nerven.
Helmsby-Reihe – Reihenfolge & Verlinkung
Gablés Helmsby-Zyklus spielt im 11.–12. Jahrhundert und umfasst bislang drei Romane:
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Band 1 (Erscheinung): Das zweite Königreich – Normannische Eroberung, Cædmon of Helmsby.
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Band 2: Hiobs Brüder – The Anarchy, Losian/Alan, Gemeinschaft der „Ausgesetzten“.
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Band 3: Rabenthron (2025) – Frühphase 11. Jh., Königin Emma, Vorläufer/Vertiefung der Helmsby-Welt.
Über die Autorin – Rebecca Gablé
Rebecca Gablé (1964) gehört zu den prägenden Stimmen des deutschen historischen Romans. Neben der Waringham-Saga hat sie mit der Helmsby-Reihe einen zweiten England-Zyklus geschaffen, der frühmittelalterliche und hochmittelalterliche Umbrüche über Figurenpsychologie statt Schlachtenkataloge erzählt. Ihr Markenzeichen: gründliche Quellenarbeit, klare Dialoge, moralische Grautöne – und ein Erzähltakt, der Geschichte spürbar macht.
Ein Marsch vom Rand in die Mitte
„Hiobs Brüder“ ist einer der menschlichsten Gablé-Romane: kein Hofglanz, sondern Überlebenskunst; kein Eitelkeitsduell, sondern Würdearbeit. Wer sehen will, wie sich inmitten der Anarchie Gemeinschaft bildet – und wie Identität ohne Erinnerung trägt –, bekommt hier eine Geschichte, die warm erzählt und hart hinschaut. Klare Leseempfehlung.
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