Astrid Lindgren erzählte gern, wie diese Geschichte entstand. Auf dem Norra kyrkogården in Stockholm stieß sie auf den Grabstein der Brüder Bernström. Beide waren jung gestorben. Später, in Vimmerby, las sie: „Hier ruhen die Brüder Fahlén, gestorben im zarten Alter 1860.“ Da war klar: Es würde ein Märchen werden. Über zwei Brüder. Und über den Tod.
1973 erschien das Buch. Der Titel: Die Brüder Löwenherz. Das Publikum war verstört. Zu düster, zu direkt, zu wenig kindlich. Lindgren ließ sich nicht beirren. Die Geschichte war notwendig, sagte sie. Und sie blieb es.
Nangijala ist kein Himmel
Der Ich-Erzähler heißt Karl, genannt Krümel. Er ist krank, schwach, und weiß, dass er bald sterben wird. Sein älterer Bruder Jonathan liest ihm vor, tröstet ihn, verspricht eine andere Welt.
„In Nangijala sehen wir uns wieder.“
Dann geschieht das Unerwartete: Nicht Krümel stirbt zuerst, sondern Jonathan. Er rettet seinen kleinen Bruder aus einem brennenden Haus, trägt ihn auf dem Arm durch das Feuer – und stirbt dabei selbst. Krümel folgt ihm bald darauf. Und das Versprechen löst sich ein.
Was folgt, ist keine Erlösung. Nangijala ist schön – Kirschtal, Pferde, Lagerfeuer – aber auch gefährlich. Der Tyrann Tengil unterdrückt das Land. Der Drache Katla lebt in einem Berg. Es gibt ein Widerstandsnest, versteckt im Wald. Jonathan schließt sich an. Und Krümel folgt ihm.
Was wie eine klassische Abenteuererzählung beginnt, wird rasch ernst. Freundschaft, Verrat, Schuld – und am Ende die Frage: Wann ist der Moment, in dem man sich entscheiden muss?
Kein Heldenbuch
Jonathan ist stark, gut, mutig. Fast zu ideal. Aber Lindgren stellt ihm den kränklichen Krümel zur Seite – einen Erzähler, der zögert, zweifelt, Angst hat. Das macht das Buch lesbar. Und offen.
Denn hier geht es nicht um Heldentum. Sondern darum, was passiert, wenn man keine Wahl mehr hat. Krümel wächst nicht über sich hinaus, weil er will. Sondern weil die Lage es erfordert.
Ein Satz bleibt hängen: „Aber es gibt Dinge, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck.“ Das ist keine Pose. Das ist eine Zumutung. Und gerade deshalb so wirkungsvoll.
Literatur ohne Sicherheitsnetz
Lindgrens Sprache ist einfach. Aber sie meint es ernst. Kein Absatz, der die Leser schont. Kein Satz, der vor dem Thema zurückschreckt. Tod, Gewalt, Verantwortung – das Buch nennt es. Und erklärt nichts weg.
Für viele war das ein Tabubruch. Kinderbuch und Tod – geht das? Lindgrens Antwort ist klar: Kinder wissen längst, dass die Welt nicht immer heil ist. Die Literatur muss das nicht beschönigen. Sie muss es aushalten.
Und das tut Die Brüder Löwenherz. Es nimmt seine Leserinnen und Leser ernst. Ohne Belehrung. Ohne Ausweg.
Nähe ohne Rührung
Trotz allem bleibt das Buch zugänglich. Es liest sich leicht, wenn man nicht genau hinsieht. Wer aber wirklich liest, merkt schnell: Hier wird nichts verschenkt. Der Schmerz bleibt. Auch die Angst.
Aber es gibt einen Trost. Nicht im klassischen Sinn – kein Happy End, keine Erlösung. Aber die Gewissheit, dass jemand da ist, der mitgeht. Jonathan trägt. Krümel folgt. Und am Ende kehren sie zurück. Nicht in die Welt, sondern weiter – in das nächste Land. Nangilima.
Was das bedeutet, bleibt offen. Lindgren deutet nicht. Sie überlässt die letzte Entscheidung dem Leser. Auch das: ungewöhnlich. Und mutig.
Ein Kinderbuch für alle, vor allem für Freigeister
Die Brüder Löwenherz ist kein pädagogisches Buch. Es will nichts erklären, nichts verbessern. Es erzählt. Und das reicht.
Dass es dabei Fragen stellt, die größer sind als das Genre, macht es relevant. Damals wie heute. Was ist Mut? Was ist Freiheit? Und wie lebt man weiter, wenn jemand fehlt?
Lindgren antwortet nicht. Aber sie schreibt so, dass man die Frage nicht mehr loswird.
Hier bestellen
Topnews
Ein Geburtstagskind im November: Astrid Lindgren
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Elizabeth Shaw: Der kleine Angsthase
Weihnachten in Bullerbü– Astrid Lindgrens Bullerbü als Bilderbuch
Salman Rushdie: Die elfte Stunde
Benno Plura: Bootsmann auf der Scholle
„100 Seiten sind genug. Weltliteratur in 1-Stern-Bewertungen“ von Elias Hirschl
Zeit für Geschichten: Klassische Kinderbücher für eine magische Weihnachtszeit
Bergwelt als Textur – Mignon Kleinbek: Wintertöchter. Die Gabe
Stimmen aus der Stille von Yahya Ekhou: Frauen in Mauretanien, Selbstbestimmung und die Kraft biografischer Literatur
Geschenktipp zu Weihnachten: Otfried Preußlers Die kleine Hexe
László Krasznahorkais neuer Roman „Zsömle ist weg“
So ein Struwwelpeter von Hansgeorg Stengel & Karl Schrader
Georgi Gospodinovs „Der Gärtner und der Tod“ ist Buch des Jahres der SWR Bestenliste
Astrid Lindgrens „Tomte Tummetott“ – Ein Weihnachtsbuch ohne Lametta
Zwischen den Bildern – Margaret Atwoods „Book of Lives“
Abdulrazak Gurnahs : Diebstahl
Aktuelles
Der Freund von Freida McFadden – Dating, das nach Angst riecht
Bergwelt als Textur – Mignon Kleinbek: Wintertöchter. Die Gabe
Stimmen aus der Stille von Yahya Ekhou: Frauen in Mauretanien, Selbstbestimmung und die Kraft biografischer Literatur
Der gefrorene Fluss von Ariel Lawhon – Eis, Recht und eine Frau, die Protokolle zur Waffe macht
Goreng – 33 urdeutsche Gerichte von Horst Kessel – Wenn die Küche Beige trägt (und wir trotzdem lachen)
Winter mit Jane: Über Bücher, Bilder und das alljährliche Austen-Gefühl
Benno Pludras Lütt Matten und die weiße Muschel
Spuren im Weiß – Ezra Jack Keats’ „The Snowy Day“ als stille Poetik der Kindheit
Der Mann im roten Mantel – The Life and Adventures of Santa Claus von L. Frank Baum
Die Illusion der Sicherheit – wie westliche Romane den Frieden erzählen, den es nie gab
Beim Puppendoktor – Ein Bilderbuch über das Kind und sein Spiel
Denis Scheck über Fitzek, Gewalt und die Suche nach Literatur im Maschinenraum der Bestseller
Die Frauen von Ballymore von Lucinda Riley- Irland, eine verbotene Liebe und ein Geheimnis, das nachhallt
Katrin Pointner: Willst du Liebe
Geschenktipp zu Weihnachten: Otfried Preußlers Die kleine Hexe
Rezensionen
Die stille Heldin von Hera Lind – Eine Mutter hält die Welt zusammen
Kiss Me Now von Stella Tack – Prinzessin, Personenschutz, Gefühlsernst
Kiss Me Twice von Stella Tack – Royal Romance mit Sicherheitsprotokoll
Kiss Me Once von Stella Tack – Campus, Chaos, Bodyguard: eine Liebesgeschichte mit Sicherheitslücke
Die ewigen Toten von Simon Beckett – London, Staub, Stille: Ein Krankenhaus als Leichenschrein
Totenfang von Simon Beckett – Gezeiten, Schlick, Schuld: Wenn das Meer Geheimnisse wieder ausspuckt
Verwesung von Simon Beckett – Dartmoor, ein alter Fall und die Schuld, die nicht verwest
Leichenblässe von Simon Beckett – Wenn die Toten reden und die Lebenden endlich zuhören
Kalte Asche von Simon Beckett – Eine Insel, ein Sturm, ein Körper, der zu schnell zu Staub wurde
Die Chemie des Todes von Simon Beckett– Wenn Stille lauter ist als ein Schrei
Knochenkälte von Simon Beckett – Winter, Stille, ein Skelett in den Wurzeln
Biss zum Ende der Nacht von Stephenie Meyer – Hochzeit, Blut, Gesetz: Der Schlussakkord mit Risiken und Nebenwirkungen
Das gute Übel. Samanta Schweblins Erzählband als Zustand der Schwebe
Biss zum Abendrot von Stephenie Meyer – Heiratsantrag, Vampirarmee, Gewitter über Forks