Die Holländerinnen von Dorothee Elmiger – Aufbruch ins Offene: Wenn True Crime zur Fata Morgana wird

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Ein Anruf, Warnblinker am Straßenrand, dann der Sog: Eine namenlose Autorin soll eine Theatergruppe in den südamerikanischen Regenwald begleiten, um ein altes Verschwinden „nachzustellen“. Dorothee Elmigers „Die Holländerinnen“ ist kein Krimi, der Antworten sortiert, sondern ein Roman, der die Sehnsucht nach Gewissheit seziert – und zeigt, wie Erzählungen selbst zu Monstern werden können. Das Buch erschien bei Hanser (160 Seiten) am 19. August 2025 und wurde zwei Wochen später mit dem Deutschen Buchpreis 2025 ausgezeichnet. Die Jury pries es als Ereignis, viele Buchhandlungen waren kurzfristig ausverkauft.

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Die Holländerinnen: Roman

Worum geht es in „Die Holländerinnen“

Die Erzählerin – Schriftstellerin, skeptisch und elektrisiert zugleich – erhält den Auftrag eines selbstverliebten Theatermachers: Gemeinsam mit dem Ensemble soll sie den realen, nie gelösten Fall zweier in Mittelamerika verschwundener junger Niederländerinnen als Bühnenprojekt erforschen. Namen werden im Roman nicht genannt; wer sich in True-Crime-Historien auskennt, erkennt den Bezug zu einem Fall von 2014. Die Gruppe reist, probt, protokolliert – und verliert sich in Versionen.

Statt eindeutiger Spuren häufen sich Erzählpartikel: Tonbänder, Protokolle, Fotos, Mythen, „Material“. Unter den Bedingungen von Hitze, Dschungelgeräuschen und symbolischer Überladung verlaufen Realität und Spiel ineinander. Die Erzählerin spürt Angst, Schuldphantasien, eine Art kosmisches Unbehagen. Die Theatergruppe erzählt abends am Lagerfeuer Schreckgeschichten – nicht um zu erklären, sondern um den Horror auszuhalten. Keine Auflösung. Vielmehr die Einsicht: Vielleicht scheitern alle Narrative an der Welt, die sie erklären wollen.

Erzählung, Gewalt, das Monströse

1) Das Versagen der Erzählungen: Elmiger führt vor, wie wir Geschichten basteln, um das Unbekannte zu bändigen – und wie diese Geschichten uns zurückbeißen. Der Roman thematisiert ausdrücklich das „Versagen der Erzählungen“: Nicht weil die Autorin nicht wüsste, wie man auflöst, sondern weil bestimmte Abgründe nicht auflösbar sind.

2) True Crime als Begehren: Der Sog realer Fälle – hier als Kunstprojekt – wird nicht sensationalistisch ausgeschlachtet, sondern kritisch gespiegelt: Warum gieren wir nach „Clues“, warum lieben wir Karten, Timelines, Podcasts? Elmiger zeigt, wie Macht (wer erzählt?) und Begehren (was wollen wir hören?) zusammenwirken.

3) Menschen und Monstren: Immer wieder taucht die Frage auf: Wo sitzt das Monströse – im Dschungel, in den vermeintlichen Tätern, in uns? Selbst die Sprache erscheint „furchtbar und monströs“, wie Kritiken zugespitzt formulierten. Der Horror ist anthropologisch, nicht nur kriminologisch.

4) Theater als Labor: Probe, Wiederholung, Improvisation: Das Theater erzeugt Wahrheiten auf Zeit. Elmiger nutzt diese Praxis, um Wirklichkeit zu testen – und lässt uns beim Scheitern zusehen.

Zwischen Faktenhunger und Deutungsökonomie

Seit Jahren erleben wir einen Boom von True-Crime-Formaten. „Die Holländerinnen“ dreht das Objektiv um: Statt Fallrekonstruktion bekommen wir eine Rekonstruktion der Rekonstruktion – samt Nebenwirkungen wie Selbstüberschätzung, Projektionen und kolonialem Blick im Tropen-Setting. Rezensionen betonen, wie Elmiger die Faszination und Gefahr dieser Formate freilegt; Kritiker verweisen auf die Nähe zu Werner-Herzog-Expeditionsmythologien und medientheoretischen Reflexen (Benjamin). Anders gesagt: Der Roman spricht unsere Gegenwart – den Hunger nach Gewissheit – direkt an.

Dichte Bilder, harte Schnitte, essayistischer Puls

Elmigers Prosa ist präzise und aufgeladen: atmosphärische Bilder, die plötzlich in Reflexion kippen; schnelle Schnitttechnik zwischen Protokoll, Beobachtung, Erinnerungsstück. Wer „klassische“ Plotkurven erwartet, wird überrascht; wer Sprach- und Formkraft sucht, fühlt sich auf erschreckend schöne Weise heimisch. Kritiken sprechen von einem „bildgewaltigen Roman“; der Welt-Artikel unterstreicht die sprachliche Radikalität: Selbst die Sprache sei hier „entsetzlich, furchtbar, monströs“.

Was das Buch verhandelt – kurz erklärt

  • True-Crime-Ethik: Wer hat das Recht, reale Leiden zu „bespielen“? Elmiger zeigt, wie ästhetische Neugier und moralische Verantwortung kollidieren – ein relevantes Thema für Podcasts, Dokus, Theater.

  • Erzählen vs. Wissen: Der Roman macht erfahrbar, dass Erzählen kein Synonym für Erkenntnis ist. Man kann sprachlich brillant scheitern – und genau das ist ehrlich.

  • Kolonialer Blick & Projektion: Tropen als Kulisse für westliche Suchtruppen – Elmiger lässt die Ambivalenzenzu, statt sie didaktisch „abzuarbeiten“.

  • Theatermethoden als Erkenntnismaschine: Wiederholung, Rollenwechsel, Versuchsanordnung – kein Realitätsersatz, aber ein Sensibilisierungsgerät.

Für wen eignet sich „Die Holländerinnen“?

  • Für Leser, die sprachmächtige Gegenwartsliteratur suchen und bereit sind, Ungewissheit auszuhalten.

  • Für Interessierte an Medienkritik, True-Crime-Dynamiken, Theater als Erkenntnispraxis.

  • Für Lesegruppen, die über Ethik, Perspektive, Macht sprechen wollen – das Buch ist diskussionsprall (und schlank genug, um gemeinsam zu lesen).

Stärken & mögliche Reibungen

Stärken

  1. Formbewusstsein: Elmiger beherrscht die Mischung aus Narration und Essay, ohne prätentiös zu werden.

  2. Gegenwartsdruck: Das Buch trifft unseren Faktenhunger und legt offen, warum wir Geschichten so sehr brauchen – und warum sie scheitern.

  3. Konsequente Ambivalenz: Keine billigen Auflösungen, keine moralischen Vereindeutigungen – das ist intellektuell redlich.

Mögliche Reibungen

  1. Erwartungsbruch: Wer einen Krimi sucht, wird das Fehlen einer Auflösung als frustrierend empfinden – das ist Absicht.

  2. Essay-Anteile: Die Reflexionen sind integraler Teil des Kunstgriffs; für rein plotgetriebene Leser kann das „trocken“ wirken.

  3. Selbstspiegel der Szene: Der Theatermacher als groteske Figur entlarvt Kunstbetriebsgesten – nicht jeder mag diese „Innenkritik“.

Literatur als Versuchsanordnung: mutig, hellhörig, notwendig

„Die Holländerinnen“ ist ein kurzer, gewaltiger Roman über das, was Erzählungen können – und was sie nicht dürfen. Elmiger setzt uns einer kontrollierten Unsicherheit aus und erinnert: Manche Dinge bleiben dunkel, auch wenn man alle Scheinwerfer aufdreht. Wer Literatur als Erkenntnisarbeit liest, findet hier einen Pflichttext des Jahres. Kein Trost, aber Klarheit darüber, warum unser Wunsch nach Gewissheit so gefährlich sein kann. Uneingeschränkte Empfehlung– mit dem Hinweis, dass der Text arbeitet und nachhallt.

Über die Autorin – Dorothee Elmiger

Dorothee Elmiger (1985, Schweiz) gilt seit „Einladung an die Waghalsigen“ (2010) und „Schlafgänger“ (2014) als eine der prägenden Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur; „Aus der Zuckerfabrik“ (2020) wurde u. a. für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit „Die Holländerinnen“ gewann sie 2025 den Deutschen Buchpreis. Ihre Bücher verbinden poetische Bildkraft mit essayistischer Reflexion – Literatur als Selbstbefragung der Welt.

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