Mit „Die Zeit der Verachtung“ (poln. Czas pogardy, 1995) verlässt Andrzej Sapkowski die überschaubaren Hexer-Aufträge und setzt die Reihe auf Kriegs- und Machtkurs: Zaubererkonvent, Hofpolitik, Geheimdienste – und mittendrin Geralt, Yennefer und Ciri, deren Schutz zur Nagelprobe jedes Prinzips wird. Wer nach Das Erbe der Elfen dachte, die großen Schlachten kämen später, irrt: Der Roman verlegt die Schlacht ins Institutionelle – und zeigt, wie schnell Moral in Räten und Logen zerscheuert.
Die Zeit der Verachtung (Witcher 4) von Andrzej Sapkowski:Wenn Neutralität plötzlich Lärm macht
Handlung "Die Zeit der Verachtung"
Vorbereitung auf Thanedd:Während die Nordkönige eine Kriegsbegründung gegen Nilfgaard stricken, bringt Yennefer Ciri aus dem Tempel von Ellander nach Gors Velen – Ziel: Aufnahme an der Magierschule Aretuza und Teilnahme an der Zaubererkonferenz auf der Insel Thanedd. Geralt ermittelt parallel, wer hinter den Versuchen steckt, Ciri zu verschleppen (Stichwort Rience), und stößt dabei auf mehr Politik als Zauberei.
Der Bruch auf Thanedd: Auf der Konferenz kommt es zum berüchtigten Thanedd-Putsch: Pro-Nilfgaard-Zauberer und ihre Gegner gehen aufeinander los, Tissaia de Vries öffnet – fatal – die Verhörräume, und aus Intrige wird Massaker. Geralt gerät in ein Duell mit Vilgefortz und wird schwer verletzt; Ciri entkommt durch ein instabiles Portal im Gullturm (Tor Lara). Der Putsch spaltet die Magierwelt, diskreditiert die Zunft in den Augen der Könige – und schiebt die Nordkriege an.
Ciris Wüste & der neue Blick: Ciri landet in der Korath-Wüste („Bratpfanne“), überlebt knapp – auch dank eines Einhorns, das sie „Kleines Pferd“ nennt. Als das Tier verletzt wird, greift Ciri zu einer rohen, gefährlichen Form der Magie – erschrickt vor der eigenen Vision von Macht und schwört, keine Zauberei mehr zu benutzen. Später wird sie von Kopfgeldjägern gefasst, kann jedoch entkommen und findet Anschluss bei den Ratten, einer Bande jugendlicher Kriegsverlorener. Hier beginnt der Alias „Falka“ – Identität als Rüstung.
Nachbeben: Geralt erwacht im Brokilon, wird von Dryaden und Triss zusammengeflickt; Jaskier berichtet, wie schnell Fronten verschoben wurden (Dol Blathanna, falsche „Ciri“ in Nilfgaard, bröckelndes Vertrauen in Magier). Das Große passiert offstage – genau deshalb wirkt es historisch und nicht wie Kulisse.
Vorsehung unter Realbedingungen
1) Neutralität vs. Verantwortung: Der Hexer-Kodex taugt im Kleinen; im Großen wird er zur Ausrede. Sobald Ciri im Fadenkreuz ist, wird aus „ich mische mich nicht ein“ ein moralischer Luxus, den sich Geralt nicht mehr leisten kann.
2) Institutionen als Mythensäge: Konvent, Logen, Höfe – alle behaupten, Vorsehung zu deuten. Sapkowski zeigt, wie Erzählmacht in Kriegszeiten zur Waffe wird: Wer die Legende vom Älteren Blut verwaltet, verwaltet Herrschaft.
3) Pubertät & Politik: Ciri ist nicht „Auserwählte“ im Posterformat, sondern Jugendliche in einem System, das sie verbrauchen will. Der Wüstentrip ist keine Sidequest, sondern eine Selbstdiagnose: Macht ohne Maß ist Selbstverlust.
4) Freundschaft als Infrastruktur: Triss, Jaskier, Dryaden – ohne Netz kein Überleben. Das Pathos bleibt aus; was zählt, sind konkrete Handlungen: pflegen, verstecken, lügen, wenn es schützt.
Warum dieser Band 2025 so gegenwärtig wirkt
Sapkowski schrieb im postsozialistischen Umbruch; sein Blick auf Institutionen ist nüchtern: Ideale werden zu Instrumenten, sobald sie auf Interessen treffen. Der Roman liest sich heute wie eine Anweisung, Propaganda als Protokoll zu lesen: Wer profitiert? Wer erzählt? Thanedd steht damit für den Moment, in dem sich Eliten selbst delegitimieren – und das Vakuum mit Gewalt gefüllt wird. Das ist nicht „Aktualisierung“, sondern historische Plausibilität, die den Stoff alterslos macht.
Ratszimmerthrill statt Drachenkonzert
Sapkowski bleibt dialoggetrieben: Schnelle Schnitte, präzise Szenen, Ironie als Seziermesser. Statt großem Bombast gibt es Prozedur (Absprachen, Verhöre, Deals) und punktuelle Gewalt – dadurch wirkt der Putsch schockierend real. Die deutsche Übersetzung (Erik Simon) hält den Ton trocken, rhythmisch, ohne die Mehrdeutigkeiten zu glätten. Ergebnis: Lesesog ohne Effekt-Feuerwerk.
Für wen eignet sich „Die Zeit der Verachtung“?
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Fantasy-Leser, die Politik, Ethik und Figurenarbeit schätzen – weniger Schlachtenmalerei, mehr Konsequenzen.
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Buchclubs, die über Neutralität, Erzählmacht und Jugendschutz im Krieg debattieren wollen.
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Serien-/Game-Fans, die die Buchtemperatur kennenlernen möchten: gesetzter, grauer, im Kern humanistisch.
Kritische Einschätzung – Stärken & Schwächen
Stärken
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Schlüsselereignis Thanedd: plausibel aufgebaut, narrativ folgenschwer – der Kippmoment der gesamten Saga.
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Ciris Eigenkapitel: Wüste, Einhorn, Verzicht auf Magie – starke Charakterarbeit, kein Plot-Alibi.
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Politische Lesbarkeit: Königstreffen, Logenrisse, Geheimdienste – verständlich ohne Lore-Lawine.
Schwächen
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Namen- und Fraktionsdichte: Wer nur Monster-of-the-Week erwartete, muss umschalten.
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Actiondosierung: Viele Konflikte sind verhandelt, nicht geschlagen – das fordert Geduld.
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Offstage-Historie: Großes passiert außerhalb der Kamera; manchen fehlt der „epische Blick“.
Warum dieser Roman bleibt
„Die Zeit der Verachtung“ ist der Band, in dem Geralt seine Komfortzone verliert, Ciri eine Stimme findet und Yennefer als Strategin sichtbar wird. Statt eskapistischer Fantasy liefert Sapkowski Realismus mit Magieauflage: Institutionen, die scheitern; Menschen, die trotzdem handeln. Wer die Witcher-Saga ernst nehmen will, muss hier durch – und wird belohnt: mit einer Welt, die nach dem Zuklappen größer wirkt als vorher. Klare Leseempfehlung – direkt weitermachen mit „Feuertaufe“.
Über den Autor – Andrzej Sapkowski
Andrzej Sapkowski (1948, Łódź) ist eine Schlüsselfigur der europäischen Fantasy. Nach zwei Kurzgeschichtenbänden setzte er mit „Das Erbe der Elfen“ (1994) die Romane an; „Die Zeit der Verachtung“ (1995) ist der zweite Saga-Roman. Die dtv-Ausgaben positionieren die Reihe als Bücher zur Netflix-Adaption; die deutsche Übertragung besorgt Erik Simon. Preise wie der Zajdel-Preis markieren die frühe Resonanz, die später global wurde.