Agnieszka Lessmann: Aga – Kindheitsfragmente zwischen Schweigen und Fantasie

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Die Hauptfigur von Agnieszka Lessmanns Roman heißt nicht einfach Aga. In Polen war sie Agnieszka, in Israel Ilana, in Deutschland nun Aga. Schon in dieser Verschiebung liegt ein Programm: Identität ist nichts Festes, sondern etwas, das neu benannt, überklebt, manchmal auch ausgelöscht wird. „Noch nicht einmal die Namen sind mit den Personen verbunden“, heißt es einmal lapidar. Für ein Kind, das die Kontinente wechselt, ist der eigene Name nicht Herkunftsversprechen, sondern eine Art wandernder Aufkleber.

Agnieszka Lessmann: Aga – Kindheitsfragmente zwischen Schweigen und Fantasie Agnieszka Lessmann: Aga – Kindheitsfragmente zwischen Schweigen und Fantasie Gans Verlag

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Aga erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie, die nach der antisemitischen Hetze der polnischen Kommunistischen Partei 1968 ihre Heimat verlassen muss. Über Israel kommt sie nach Deutschland, in ein Haus der jüdischen Gemeinde. Dort, im Land der Täter, beginnt die Suche nach einer Sprache und einem Platz in einer Geschichte, die von Schweigen dominiert ist.

Fragmente, die nicht zusammenpassen wollen

Lessmann eröffnet ihren Roman mit einem Bild, das den Ton für den gesamten Text setzt:

„Ich habe diese, meine eigene Geschichte selbst erfahren, wie man etwas aus Stoffresten zusammensetzt. Stück für Stück. Lange Zeit habe ich bloße Fetzen in Händen gehalten und nicht gewusst, wie sie aneinanderpassen sollen.“

Erinnerung erscheint hier nicht als kohärente Chronik, sondern als Flickarbeit. Das Erzählen selbst übernimmt die Methode des Erinnerns: Es tastet sich an Bruchstücke heran, fügt sie probeweise zusammen und lässt doch sichtbar, wo die Nähte verlaufen. Das macht den Roman so stark – er verschleift nicht, er belässt die Zerrissenheit.

Kindliche Logik als Form

Besonders eindringlich ist, wie Lessmann die Perspektive des Kindes ernst nimmt. Sie erklärt die Welt nicht im Rückblick, sondern überlässt es der kindlichen Logik, Szenen zu ordnen. Wenn Aga und ihre Freundin Sara beschließen, im Keller nach den „Mördern“ zu suchen, dann geschieht das mit entwaffnender Direktheit:

„Sara und ich suchen die Mörder. Weil wir nicht wissen, wie Mörder aussehen oder was genau sie machen, können sie überall lauern, ganz besonders im Keller.“

Das Grauen, das die Erwachsenen verschweigen, verwandelt sich im kindlichen Spiel in ein Abenteuer. Die Angst wird nicht verharmlost, sondern in die Welt kindlicher Fantasie überführt. Das ist die eigentliche Kunst Lessmanns: Sie schreibt nicht „über“ Kinderseelen, sondern „im Rhythmus eines Kindes“, das zugleich spielen und fürchten, träumen und ahnen kann.

Sprache als Aufkleber

Der Roman verhandelt nicht nur Geschichten, sondern auch Wörter. In einer der klügsten Passagen erklärt die Erzählerin:

„Die Wörter sind nicht dauerhaft mit den Gegenständen verbunden. Sie sind angeklebt und man kann sie austauschen.“

Für ein Mädchen, das Sprachen wechseln muss, ist dies kein abstrakter Gedanke, sondern alltägliche Praxis. Polnisch, Hebräisch, Deutsch – jedes Wort ist austauschbar, und doch bleibt das Ding dasselbe. So entsteht eine Grammatik des Exils: Sprache ist nicht Heimat, sondern Etikett, das sich ablösen lässt.

Diese Methode zieht sich durch den ganzen Text. Lessmanns Sprache ist einfach, fast lakonisch, und gerade darin von schneidender Präzision. Sie verzichtet auf Pathos und aufklärerische Erklärung, sie belässt den Dingen ihre Fremdheit.

Der Zauber des Schweigens

Ein zentraler Moment des Romans spielt im Wohnzimmer des Ehepaars Fuks. Die Erwachsenen reden, verstummen, und das Kind erlebt diese Stille wie eine übernatürliche Macht:

„Das Schweigen ist ein mächtiger Zauberer.“

Damit ist das Thema des Romans auf den Punkt gebracht. Schweigen ist nicht bloß Abwesenheit von Rede, sondern eine Kraft, die Räume füllt, Kinder verstört und Generationen prägt. Die Eltern sprechen nicht über ihre ersten zwanzig Lebensjahre, die Nachbarn verschweigen eine tote Tochter, und die Kinder lernen früh, dass das Unsagbare überall ist.

Bilder voller Ambivalenz

Lessmann arbeitet mit dichten Bildern, die die Ambivalenz kindlicher Wahrnehmung einfangen. Die Amerikaner auf dem Tennisplatz wirken freundlich und fremd zugleich, der „Jäger“ im dritten Stock erinnert an ein Gespenst aus einem Märchen, die Hippies im Klostergarten erscheinen wie märchenhafte Gärtner. So verschmelzen politische Realität, Alltagsbeobachtung und Fantasie.

Ein besonders starkes Bild entsteht, als Aga und ihr Vater auf einem Schiff Papierschiffchen ins Wasser setzen. Das Kind sieht darin ein Spiel, der Leser erkennt in den zerfallenden Schiffen ein Bild für zerbrechliche Existenzen im Exil.

Zwischen Autobiografie und Literatur

Dass Aga autobiografisch gefärbt ist, spürt man auf jeder Seite. Doch Lessmanns Roman ist keine Nacherzählung eigener Erlebnisse, sondern eine literarische Bearbeitung. Er greift persönliche Erinnerungen auf, übersetzt sie aber in eine Sprache, die das Private überschreitet. Gerade in der Reduktion, in der kindlichen Perspektive, wird das Universelle deutlich: die Erfahrung von Migration, von Schweigen, von gebrochener Herkunft.

Einordnung in die Erinnerungsliteratur

Lessmanns Roman steht in der Tradition der zweiten Generation nach der Shoah. Autoren wie Katja Petrowskaja (Vielleicht Esther) oder Barbara Honigmann haben ähnliche Themen verhandelt: das Suchen nach den Lücken in der Familiengeschichte, das Weiterleben mit dem Unsagbaren. Doch Aga unterscheidet sich durch zwei Besonderheiten: durch die durchgehaltene Perspektive des Kindes und durch die Verbindung von Shoah-Erbe und Migrationserfahrung nach 1968.

Damit trifft der Roman auch die Debatten der Gegenwart: Wie erinnern wir, wenn das Schweigen das dominierende Erbe ist? Und wie verändert Migration die Erinnerungskultur?

Frühe Anerkennung

Noch vor Erscheinen wurde der Roman in das Kulturprogramm 2026 des Zentralrats der Juden aufgenommen – ein Zeichen, dass er nicht nur literarisch, sondern auch gesellschaftlich Resonanz erzeugt. Am 10. Dezember 2025 wird Lessmann das Buch im Kölner Literaturhaus vorstellen, und auch auf der Frankfurter Buchmesse wird es eine Lesung geben. Solche Stationen zeigen: Aga ist mehr als ein Debüt – es ist eine Stimme im aktuellen Gespräch über Erinnerungskultur.

Die Autorin

Agnieszka Lessmann, aufgewachsen in Polen, Israel und Deutschland, hat bereits zahlreiche Hörspiele geschrieben und war mehrfach für den Prix Europa und den Hörspielpreis der Kriegsblinden nominiert. 2020 veröffentlichte sie ihren Lyrikband Fluchtzustand. Stipendien, zuletzt 2025 vom Deutschen Literaturfonds, haben ihre Arbeit gefördert. Aga ist ihr erster Roman – und doch spürt man die Präzision der Hörspielautorin und die poetische Verdichtung der Lyrikerin auf jeder Seite.

Die Unschuld sieht, was Worte nicht fassen

Aga ist ein Buch, das auf die Augen eines Kindes vertraut – und gerade darin seine Wahrheit findet. In dieser Perspektive liegt eine Allegorie: das Kind als Inbild der Unschuld, der ungebrochenen Fähigkeit zu glauben, dass Fragen Antworten haben und dass hinter der Angst noch Menschlichkeit möglich ist.

Lessmann zeigt, dass die Shoah nicht erklärbar ist, nicht durch Zahlen, nicht durch Erklärungen, nicht durch Analysen. Das Grauen entzieht sich jeder Sprache. Aber wenn ein Kind im Keller nach „den Mördern“ sucht, wenn es merkt, dass Leben einfach wegfließt und keine Spuren hinterlässt, dann zeigt sich in dieser unschuldigen Wahrnehmung mehr Wahrheit, als jedes spätere Deuten erreichen könnte.

So wird das Kind selbst zur Allegorie: für die Menschlichkeit, die bleibt, obwohl sie fast ausgelöscht wurde; für das Vertrauen, das immer wieder neu geboren wird; für die Unschuld, die überlebt, indem sie die Welt noch einmal ganz neu sehen darf. Aga ist deshalb kein erklärender Roman über die Shoah, sondern ein leiser, unbestechlicher Text über das, was uns Menschen trotz allem ausmacht.


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