Ein toter Wal am Strand, ein herrenloser Windhund und ein junger Mann, der wegen Keimangst kaum den Caravan verlässt – „Der Große Gary“ von Rob Perry klingt nach skurrilem Stoff und ist doch vor allem eines: eine sehr menschliche Geschichte über Angst, Verantwortung und Mut. Die deutsche Ausgabe erscheint bei DuMont Buchverlagin der Übersetzung von Hanna Große; der Originaltitel lautet „DOG“ und kam 2024 bei Europa Editions (UK)heraus. Dass der Roman bereits in der englischen Fassung für Aufmerksamkeit sorgte, liegt an seiner Mischung aus Humor, Roadmovie-Impuls und zarter Coming-of-Age-Erzählung – mit einem Windhund als moralischem Katalysator.
Worum geht es in Der Große Garry?
Benjamin, 18, lebt an der Ostküste Englands in einem Caravan Park. Er arbeitet im Supermarkt, meidet Krankenhäuser aus Furcht vor Keimen und führt ein Leben, das so still ist, dass schon ein angespülter Wal zum Ereignis wird. Am Strand läuft ihm ein Windhund zu – elegant, wachsam, plötzlich treu. Der Hund weicht Benjamin nicht mehr von der Seite. Kurz darauf steht Leonard, ein etwas windiger Essenslieferant, vor der Tür und erkennt im Tier den „Großen Gary“, den schnellsten Rennhund des Landes. Er warnt: Die Besitzer sind brutal, der Hund ist Geld wert – und in Gefahr. Für Benjamin bedeutet das: raus aus der Komfortzone, rauf auf die Straße, hinein in eine Welt, die nicht desinfiziert ist.
Was folgt, ist eine Flucht- und Freundschaftsgeschichte: Benjamin und Leonard werden ein unfreiwilliges Duo. Unterwegs muss Benjamin lernen, Risiken zu kalibrieren – für sich und für Gary. Die Gefahr sitzt nicht nur in den Verfolgern, sondern im eigenen Kopf: Panikattacken, Kontrollrituale, das Bedürfnis nach Reinheit. Gleichzeitig öffnet die Reise Räume: neue Begegnungen, erste echte Loyalität, ein leises Bewusstsein dafür, dass Mut nicht laut sein muss. Der Roman hält sich mit großen Twists zurück und setzt auf Beobachtung: Körpersprache, kleine Dialoge, das Tempo eines Hundes, der lernt, jemandem zu trauen. (Verlags- und Katalogtexte bestätigen Setting, Figurenkonstellation und die Prämisse mit „Rennhund“ und „unsauberen Besitzern“.)
Angst, Zugehörigkeit, Tier-Mensch-Bündnis
Angst als Alltagsarchitektur: Benjamin ist nicht „bloß“ ängstlich; er organisiert die Welt über Vermeidung. Der Roman zeigt ohne Pathos, wie Rituale Sicherheit versprechen und zugleich ein Gefängnis bauen.
Mensch–Tier-Beziehung: Gary ist nicht Maskottchen, sondern Resonanzkörper: Der Hund „antwortet“ mit Verhalten auf menschliche Entscheidungen. In dieser Parallelschaltung lernt Benjamin Verantwortung, Berührung und Vertrauen – ein psychologischer Fortschritt, den keine große Moralrede liefern könnte.
Freundschaft & asymmetrische Allianzen: Benjamin und Leonard – hygienefixer Junge trifft Gelegenheitsgauner – sind ein ungleicher Buddy-Film. Leonard ist nicht „böse“, sondern ambivalent; die Beziehung kippt zwischen Misstrauen, Zweckgemeinschaft und echter Loyalität.
Klasse & Prekarität: Caravan Park, Lieferfahrer, Nebenschichten: Das ist soziale Textur, kein Deko-Realismus. Die Rennhund-Szene fungiert als Geldmaschine mit klaren Gewinnern und Verlierern – ein Spiegel für menschliche Austauschverhältnisse am Rand. (Die Texte der Händler/Verlage rahmen Gary explizit als „schnellsten Hund“ und verweisen auf gewaltsame Besitzer; daraus ergibt sich das Machtökonomische der Handlung.)
Ostengland, Rennhunde, stille Randzonen
Die Ostküste Englands ist keine glamouröse Postkarte, sondern Randlage: viel Wind, wenig Perspektive, Menschen, die mit kleinen Jobs und großen Sorgen leben. Genau hier setzt der Roman an: Er macht Unsichtbares sichtbar – soziale Prekarität, psychische Belastung, fragiles Vertrauen in Institutionen. Die Rennhund-Premisse öffnet dabei den Blick auf eine Nische mit harten Regeln, in der Tiere und Menschen gleichermaßen funktionieren sollen. Ohne Reportagegestus, aber deutlich genug, um die moralische Schwerkraft zu spüren. (Ort und Motiv sind in den paratextuellen Beschreibungen klar benannt.)
Warmherzig, komisch, präzise
Perry schreibt leicht und genau zugleich. Die Sätze tragen Humor – selten als Pointe, eher als sanfte Entkrampfung. Das hilft, weil Benjamins Innenleben sonst schnell erdrückend wäre. Die Dialoge sind knapp, die Szenen bildstark, manchmal fast filmisch geschnitten. Man merkt dem Text eine UEA-Schreibschul-Disziplin an (klarer Fokus pro Szene, keine Satzakrobatik um ihrer selbst willen). Internationale Klappentexte sprechen von „deft humour and escalating tenderness“ – und das trifft den Ton: zunehmende Zärtlichkeit statt Rührstück.
Für wen eignet sich „Der Große Gary“?
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Leser, die Geschichten über Außenseiter mögen, ohne Elendstourismus.
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Hundefreunde, die keinen Kitsch wollen, sondern glaubwürdiges Verhalten auf beiden Seiten der Leine.
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Buchclubs, die gerne über Angststörungen, Loyalität und Verantwortung sprechen und Stoff für 1–2 intensive Sitzungen suchen.
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Studenten in Seminaren zu Gegenwartsliteratur/Sozialrealismus: gute Vorlage für Nahlektüre von Körper- und Rauminszenierungen.
Kritische Einschätzung – Stärken & Schwächen
Stärken
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Psychologische Ehrlichkeit: Der Text zeigt Angst als Funktionslogik, nicht als Plot-Schminke.
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Zweierkonstellation mit Biss: Benjamin/Leonard funktioniert als moralisches Ping-Pong – ohne simple Erlösungsbögen.
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Humorvolle Entlastung: Leise Komik, die nie ins Zynische kippt; genau dosiert für ein schweres Thema.
Schwächen
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Vorhersehbare Bahnen: Einzelne Stationen der Flucht folgen erwartbaren Mustern – der Reiz liegt eher im Wie als im Was.
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Nebenfiguren bleiben Konturen: Außer Leonard und Gary haben manche Figuren Funktion statt Tiefe.
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Gefahr unter Glasglocke: Wer großen Thrill erwartet, bekommt gedämpfte Spannung – das Buch will innere Prozesse, nicht Action.
Ein sanfter Roman mit echtem Nachhall
„Der Große Gary“ ist kein Hundemärchen, sondern eine Charakterstudie mit Motor. Perry erzählt, wie Verantwortungwächst: zuerst für ein Tier, dann für sich selbst. Das ist bewegend, weil es unspektakulär bleibt. Man liest, wie jemand die Welt in kleinen Schritten öffnet – und merkt am Ende, dass diese Schritte groß genug sind. Für Leser, die Herz und Handwerk gleichermaßen schätzen: klare Empfehlung.
Über den Autor – Rob Perry
Rob Perry (Jg. 1987) ist Absolvent des Creative-Writing-Programms der University of East Anglia (UEA). Bevor er sich dem Schreiben widmete, arbeitete er u. a. als Fitnesscoach und Feuerwehrmann. Sein Debüt „DOG“ wurde 2024 in Großbritannien bei Europa Editions (UK) veröffentlicht; zuvor war das Manuskript u. a. hoch gelobt beim Peggy Chapman Andrews First Novel Award und Teil des Escalator-Programms des National Centre for Writing. Die deutsche Ausgabe erschien bei DuMont, Übersetzung: Hanna Große.
Häufige Fragen
Ist „Der Große Gary“ auch für Leser ohne Hundebezug interessant?
Ja. Der Hund ist Auslöser, nicht Ziel. Im Kern geht es um Mut, Freundschaft und Selbstwirksamkeit.
Wie realistisch ist die Darstellung von Angststörungen?
Der Text vermeidet Etiketten und zeigt Verhalten statt Diagnose. Genau das macht die Darstellung glaubwürdig – ohne medizinische Vereinfachungen.
Sollte man zuerst die englische Ausgabe „DOG“ lesen?
Die deutsche Fassung ist stiltreu übertragen; wer Englisch liest, findet im Original denselben warmen Ton. Für Diskussionen im Buchclub reicht die deutsche Ausgabe völlig.
Lesetipps & Mehrwert
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Wenn dieses Buch gefallen hat: John Ironmongers „Der Wal und das Ende der Welt“ für das Zusammenspiel von Gemeinschaft und Natur; Matt Haigs „Ich und die Menschen“ für sanfte Existenzerkundung mit Humor.
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Hintergrund: Kurze Features über Rennhunde und Tierwohl liefern Kontext zur Gary-Prämisse