Marko Dinićs neuer Roman Buch der Gesichter erscheint am 19. August 2025 im Paul Zsolnay Verlag. Auf 464 Seiten entwirft der Autor ein literarisches Tableau, das Belgrad im Jahr 1942 als Zentrum einer ebenso persönlichen wie politischen Suchbewegung inszeniert. Erzählt wird in acht Kapiteln, aus acht Perspektiven – eine Struktur, die Erinnerungsarbeit zur Komposition werden lässt.
Dinićs Text steht in der Tradition moderner Erinnerungsliteratur, verzichtet jedoch auf die klassische Retrospektive zugunsten einer multiperspektivischen Rätselerzählung, die das 20. Jahrhundert als Spiegel von Identitätsverlust und Spurensuche begreift.
Die Suche nach der verlorenen Mutter
Im Mittelpunkt steht Isak Ras, der am Tag der „judenfreien“ Erklärung des besetzten Belgrads im Jahr 1942 durch die Stadt streift. Es ist ein letzter Gang durch ein Stadtbild, das zum Verschwinden erzogen wurde – und zur Verdrängung. Isak sucht nach seiner Mutter Olga, die vor 21 Jahren verschwand, ohne ein Zeichen zu hinterlassen.
Begleitet wird diese Spurensuche von Figuren, die teils real, teils symbolisch erscheinen: das anarchistische Paar Rosa und Milan, das sich im Dickicht der Geschichte verliert, sowie rätselhafte Doppelgänger, die die Grenzen zwischen Erinnern und Erfinden, zwischen Fakt und Fiktion verschwimmen lassen.
Dinić verzichtet auf eine lineare Handlung und setzt stattdessen auf das Zusammenwirken unterschiedlicher Stimmen. Jede Perspektive öffnet ein neues Fenster auf Vergangenheit und Gegenwart, auf politische Zusammenhänge und private Verluste.
Fragmentiert, aber nicht beliebig
Die Erzählstruktur erinnert in ihrer Form an einen Chor – nicht harmonisch, aber vielstimmig. Jede Figur bringt eine eigene Sprache, einen eigenen Rhythmus mit sich. Die Fragmente ergeben erst im Rückblick ein vollständiges Bild – kein klar umrissenes Porträt, sondern ein Flickenteppich, der seine Reibungen nicht kaschiert, sondern ausstellt.
Dinić schreibt mit klarer Präzision. Seine Sprache ist von kühler Wachheit, nie ausufernd, nie rührselig – und doch voller Spannung. Emotionen werden selten direkt benannt, sondern durch Handlung, Erinnerung und Schweigen angedeutet. Die lakonische Dichte seiner Sätze erlaubt es, große Themen auf engem Raum zu verhandeln – Shoah, Faschismus, familiäre Entwurzelung und das Trauma des Verschwindens.
Erinnerung, Identität und Geschichte
Buch der Gesichter ist mehr als ein historischer Roman. Es ist ein Text über die Fragilität von Identität, über das Bedürfnis, Geschichte zu rekonstruieren, wo offizielle Narrative versagen. Die Frage nach der Mutter wird zur Frage nach Herkunft, Zugehörigkeit, und letztlich: nach Überleben in einem Jahrhundert der systematischen Auslöschung.
Dinić umgeht Pathos und findet eine eigene Form der Erinnerung – durch das Spiel mit Perspektiven, durch das Zulassen von Leerstellen. Statt festgelegter Wahrheit präsentiert er ein Erzählen, das sich der Komplexität stellt und Widersprüchlichkeit nicht nur duldet, sondern als notwendige Bedingung begreift.
Gesellschaftliche Einordnung und literarische Verwandtschaft
Der Roman steht in der Nachfolge der postjugoslawischen Literatur, deren Themen von Erinnerung, Fragmentierung und Exil geprägt sind. Autoren wie Saša Stanišić oder David Albahari haben ähnliche Felder betreten – Dinić jedoch erweitert den Horizont, indem er die historische Tiefenschärfe stärker betont.
Zugleich lässt sich eine Nähe zur deutschsprachigen Erinnerungsliteratur feststellen – nicht im Sinne des Tonfalls, sondern im Zugriff: wie bei Katja Petrowskaja oder Jenny Erpenbeck wird Geschichte nicht erzählt, sondern befragt. Dabei bleibt Dinić stets der Geschichte Serbiens verbunden – doch die Parallelen zur europäischen Entwicklung sind offensichtlich.
Der kontrollierte Verzicht
Was diesen Roman so eindrucksvoll macht, ist nicht zuletzt, was er nicht tut. Er liefert keine Erlösung, keine finale Erklärung. Der Held wird nicht zum Märtyrer, die Mutter bleibt eine Leerstelle. Und doch entsteht daraus kein Gefühl von Leere, sondern ein eindrucksvolles literarisches Echo, das lange nachhallt.
Dinić gelingt es, Historie zu literarisieren, ohne sie zu verklären. Der Text ist durchzogen von einem leisen Zorn – nicht gegen Personen, sondern gegen das Schweigen. Gegen das Wegsehen. Gegen das Glätten.
Ein vielstimmiger Roman über das Unsagbare
Buch der Gesichter biedert sich nicht an- er verlangt Aufmerksamkeit, fordert Mitdenken – und belohnt mit einer dichten, reflektierten Lektüre, die Geschichte als gelebte Erfahrung verstehbar macht. Wer sich auf Dinićs Erzählweise einlässt, wird nicht nur ein Rätsel gelöst bekommen, sondern ein Stück europäischer Realität.
Der Autor: Marko Dinić
Marko Dinić wurde 1988 in Wien geboren, wuchs in Belgrad auf und studierte Germanistik und jüdische Kulturgeschichte in Salzburg. Sein literarisches Debüt Die guten Tage (2019) beschäftigte sich bereits mit Fragen von Herkunft, Trauma und Entwurzelung. Mit Buch der Gesichter setzt er diesen Weg fort – mit noch größerer formaler Klarheit und erzählerischer Dichte.