Mit Permafrost legt Viktor Remizov ein Werk vor, das sich aus der Zeit heraushebt – nicht, weil es aus ihr gefallen wäre, sondern weil es ihr mit unnachgiebiger Klarheit gegenübertritt. In einer literarischen Gegenwart, die oft das Persönliche mit dem Poetischen, das Subjektive mit dem Spektakulären verwechselt, wirkt dieser Roman wie ein literarischer Monolith: sachlich, groß, unerbittlich. Über 1200 Seiten lang erzählt Remizov von Gewalt, Lageralltag, Arbeit und Hoffnung in der sowjetischen Nachkriegszeit – mit einer Sprache, die nichts beschönigt und gerade darin tief berührt .
Historischer Hintergrund: Die tote Trasse
Zentraler Schauplatz des Romans ist ein monströses Infrastrukturprojekt im westlichen Teil Sibiriens: Der Bau der sogenannten „Polarkreiseisenbahn“ – später als „Stalinbahn“ oder „Tote Trasse“ bekannt. Zwischen 1947 und 1953 sollten unter unmenschlichen Bedingungen mehr als 120.000 Zwangsarbeiter eine über 1400 Kilometer lange Strecke durch Permafrost, Sümpfe und Taiga verlegen. Ein Projekt, das letztlich unvollendet blieb und nach Stalins Tod stillschweigend eingestellt wurde – ein Symbol für die Sinnlosigkeit diktatorischer Gigantomanie.
Remizov begleitet dieses Projekt im Roman chronologisch von 1949 bis zu dessen Abbruch 1953 und legt dabei den Fokus auf die Vorgänge in und um die Siedlung Jermakowo am Ufer des Jenissej. Die Entladung von Baumaterialien, der Aufbau von Lagerinfrastruktur, Transporte, Arbeitskommandos – all das wird in fast dokumentarischer Genauigkeit geschildert. Doch Remizov belässt es nicht bei der historischen Kulisse: Er zoomt hinein in die individuellen Biografien, die sich im Schatten dieses Projekts entfalten .
Zentrale Handlungsstränge und Figuren
Georgi Gortschakow
Der frühere Geologe Gortschakow ist 47 Jahre alt, als er in Jermakowo eintrifft – verurteilt wegen angeblicher Meldeverstöße bei der Entdeckung von Bodenschätzen. Nun arbeitet er als Lagerarzt, zurückgezogen, desillusioniert. Seine Frau Sinaida lebt mit den beiden Söhnen in Moskau und schreibt ihm Briefe, die unbeantwortet bleiben. Gortschakow glaubt nicht mehr an eine Rückkehr ins Leben – bis Sina sich entschließt, mit den Kindern zu ihm zu reisen. Das Wiedersehen findet statt, doch der Preis dafür ist hoch und brutal.
Alexander Below
Der zweite große Erzählstrang folgt dem jungen Kapitän Below, der mit dem Schlepper Poljarny Transporte auf dem Jenissej durchführt. Voller Idealismus glaubt er an die Weisheit Stalins und die Gerechtigkeit des Systems – selbst als erste Risse im Vertrauen sichtbar werden. Erst die Begegnung mit der französischen Verbannten Nicole verändert langsam seine Perspektive. Nicole wurde aus Lettland deportiert, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ihre Identität schwankt zwischen Rettung und Verhängnis. Die Beziehung zwischen Below und Nicole – zart, vorsichtig, immer bedroht – zeigt, wie selbst Liebe im Stalinismus zur subversiven Handlung werden kann.
Themen und Motive: Macht, Moral und Erinnerung
Permafrost ist ein Roman über den Stalinismus – über Gewalt, Willkür, Misstrauen. Es ist ein Buch über das System, das den Menschen deformiert, lange bevor es ihn vernichtet. Es erzählt von der Sinnlosigkeit zentralistischer Großprojekte, vom Missbrauch von Arbeit, Ressourcen und Leben – und zugleich von der moralischen Frage: Wer ist der eigentliche Gefangene? Der Verurteilte, der sich kleine Freiräume bewahrt – oder der Wächter, der selbst unter Beobachtung steht?
Remizov beschreibt das Leben im Lager mit ethnografischer Detailfreude: Hierarchien, Ernährung, Arbeit, soziale Praktiken – nichts wirkt erfunden, alles ist aus realer Grundlage literarisch verarbeitet. Er zeigt, wie Momente von Menschlichkeit, Nähe, Ironie und sogar Glück entstehen – aus „Fehlern im System“, aber auch aus innerer Unabhängigkeit. Seine Figuren sind geprägt von Herkunft, Religion, Mentalität – auch die Vielfalt der sowjetischen Völker und ihre je eigene Unterdrückung finden Raum .
Gleichzeitig ist Permafrost ein Roman über Erinnerung. Immer wieder stellt sich die Frage: Wird diese Zeit erinnert werden? Und wenn ja – wie? Die Antwort bleibt offen. Vielleicht wird alles für immer eingefroren bleiben, im Permafrost der Geschichte. Vielleicht gibt es aber auch ein Tauwetter. Die Hoffnung liegt nicht im System – sondern in den Menschen, die trotz allem Mensch bleiben .
Struktur: Epik mit Spannungsbogen
Remizovs Erzählweise ist episch, aber nicht ausufernd. Er verzichtet auf klassische Dramaturgie, setzt stattdessen auf einen Erzählfluss, der an den Jenissej erinnert: stetig, weit, ohne Eile – aber voller Strömungen. Er wechselt Perspektiven, Schauplätze, Stimmen – und hält so einen Spannungsbogen, der dem Roman an manchen Stellen sogar Züge eines Kriminalromans verleiht. Die vielen Figuren bleiben greifbar, weil Remizov sich klug auf einige zentrale Biografien konzentriert. Seine Figuren sind fiktiv, aber an reale Lebensläufe angelehnt – vieles im Roman basiert auf Archivmaterial der Menschenrechtsorganisation Memorial .
Literarische Verortung: Ginsburg, Platonow
Der Verlag reiht Viktor Remizov neben Tolstoi und Solschenizyn ein – nachvollziehbar, denn beide stehen für das Erhabene, das Große in der russischen Literatur. Doch Permafrost sucht nicht das Monumentale, sondern das Unausgesprochene. Remizovs Figuren leiden leise, erinnern tastend, erzählen ohne Pathos.
Darum ist die Nähe zu Jewgenija Ginsburg und Andrei Platonow treffender. Ginsburgs nüchterne Lagerprosa (Marschroute eines Lebens, Gratwanderung) und Platonows gebrochene Utopiesprache teilen Remizovs Haltung: Sie schreiben gegen das Vergessen, ohne sich zu überhöhen. Ihre Werke stehen nicht im Licht historischer Größe – sondern im Schatten ihrer Folgen. Genau dort verortet sich auch Remizovs Roman.
Ein literarischer Gletscher
Permafrost ist ein Roman, der nicht wärmt – aber leuchtet. Er zeigt die Gewalt der Bürokratie, das Verstummen der Sprache, das Überleben durch Genauigkeit. Er schreibt sich ein in die große russische Tradition – aber nicht nostalgisch, sondern sezierend.
Wer Remizov liest, liest nicht über Geschichte – er liest in ihr. Und wer danach Ginsburg und Platonow zur Hand nimmt, erkennt: Literatur kann Erinnerung sein, Widerstand, Ethik – und immer auch Stil.
Über den Autor Viktor Remizov
Viktor Remizov, geboren 1958 in Saratow, ist studierter Geologe und ausgebildeter Philologe. Nach seinem Studium in Moskau arbeitete er zunächst als Lehrer, dann zwei Jahrzehnte als Journalist. In dieser Zeit bereiste er ganz Russland, insbesondere abgelegene Regionen – Erfahrungen, die seinen Romanen ein hohes Maß an Authentizität verleihen. Die ersten literarischen Arbeiten schrieb Remizov bereits Mitte der 1980er-Jahre, veröffentlichte aber erst ab 2004. Seine Texte – Romane wie Erzählungen – wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Französisch und Arabisch. Sein Debütroman Asche und Staub wurde für den renommierten Literaturpreis Bolschaja kniga nominiert, den er schließlich 2021 für Permafrost erhielt. Remizov lebt heute in der Nähe von Moskau.
Über die Übersetzerin Franziska Zwerg
Franziska Zwerg, geboren 1969, ist eine der profiliertesten Übersetzerinnen russischer Gegenwartsliteratur ins Deutsche. Sie studierte in Berlin und Moskau, lebt heute in Potsdam und war u. a. im Bereich Theater, Dokumentarfilm und Kulturaustausch tätig. Ihre Übersetzungen zeichnen sich durch sprachliche Präzision und kulturelle Tiefenschärfe aus – eine Qualität, die sich auch in Permafrost zeigt. Sie hat u. a. Werke von Sergej Lebedew, Dmitry Glukhovsky, Viktor Martinowitsch und Halina Poświatowska übertragen.